70 T71 Auf Vittorias Antwort, so ist den Akten weiter zu entnehmen, reagiert die «fragende Dame [...] sauer». Auch scheint die «betreffende Frau Bürgerrätin das Bedürfnis [zu empfinden], Pralinés aus einer offenen vor ihr stehenden Tüte zu essen». Ein Bürgerrat will wissen, wie man «nach Olten oder Luzern» kommt. Vittoria antwortet spontan: «Den Wegweisern nach.» Und nun gibt ein Wort das andere. Der Bürgerrat: «Gehen Sie zu Pferd?» Zanetti: «Nein, mit dem Wagen.» Und wieder der Bürgerrat: «[W]as, e Wage hän Si au?». Das Gesuch wird abgelehnt. Die offizielle Begründung gemäss Paragraf 2d des damals geltenden Basler Bürgerrechtsgesetzes lautet: «notorisch anstössiger Lebenswandel». Vittoria Zanettis Fall war einer von rund 20 Fällen zwischen 1950 und 1969, in denen ausländische Bürgerrechtsbewerbende gegen die Abweisung ihres Gesuchs im Kanton Basel-Stadt Rekurs einlegten. Dabei handelte es sich um Zugewanderte der ersten und zweiten Generation, hauptsächlich um Deutsche und Italienerinnen und Italiener. Nach 15-jährigem Wohnsitz im Kanton bestand für unter 45-Jährige ein Recht auf unentgeltliche Einbürgerung. Paragraf 2d war ein Relikt aus dem Jahr 1902. Damals wollten der Bund und Kantone wie Basel, Zürich und Genf die Einbürgerung erleichtern. Angesichts der steigenden Zahlen der ausländischen Wohnbevölkerung sollte deren staatsbürgerliche Integration gefördert werden. Zwar scheiterte der Versuch um 1900, ein bundesweites ius soli einzuführen. Der Kanton Basel-Stadt weitete aber mit dem Gesetz vom 19. Juni 1902 das bestehende Recht auf unentgeltliche Einbürgerung aus und führte ein Rekursrecht ein. Zu den Ausschlusskriterien gehörte, wie bereits im Gesetz von 1879, unter anderem das Kriterium des «notorisch anstössigen Lebenswandels». Galt der Lebenswandel einer Person als offensichtlich «anstössig», verhinderte das die Einbürgerung. Die Auslegung des Paragrafen wurde immer weiter, seit sich nach dem Ersten Weltkrieg das Schlagwort der «Überfremdung» auch in der Einbürgerungspolitik des Kantons Basel-Stadt durchgesetzt hatte. So wies der Regierungsrat in seiner Stellungnahme an das Bundesgericht vom 24. November 1964 im Fall Zanetti darauf hin, dass das Einbürgerungshindernis des «notorisch anstössigen V Der Kanton Basel-Stadt lehnt das Gesuch einer jungen Italienerin ab, die sich in den 1960er Jahren einbürgern lassen will. Die Kandidatin sei zwar «in Basel geboren, aufgewachsen, habe hier die Schulen besucht und ihre Arbeitsstellen gefunden» und sie habe «in Basel Verwandte, Freunde und Bekannte». All das reicht dem Basler Regierungsrat aber nicht als «strikte[r] Nachweis» ihrer «Assimilation». Gemeinde-Archive, Bürgergemeinde Basel C 1,6 Bürgerrecht, Allg. und Einzelnes, Rekurse | Staatsarchiv Basel-Stadt
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