Leseprobe

49 Nicht nur täusche der Parvenü seine Umwelt über seine auffällige und unangemessene Bekleidung und über sein gekünsteltes Auftreten. »Er [der Blender] vergißt nicht, Vortheil aus der Verblendung seines Freundes zu ziehen, sowie aus demgünstigen Vorurtheil, das er ihn für sich hat fassen lassen.«2 Vielmehr täusche er seine Zielgesellschaft, also das Umfeld, in das er aufzusteigen strebt, indem er ebendieses Handeln gleichsam abzuleugnen trachte, sobald ein Bild- und Speichermedium dieses dauerhaft zu exponieren drohe. Die Selbstinszenierung des Parvenüs sei somit doppelt falsch, weil sie in Täuschungsabsicht die Täuschungsabsichten des alltäglichenModegebrauchs und des einverleibten Habitus zu kaschieren versuche. Der Parvenü wolle als solcher nicht erkannt werden. Die Strategien seiner bleibenden Selbstinszenierungen bestünden deshalb in der öffentlichen Zurücknahme der eigenen Ansprüche, im Bestreben, gleichsam belastende Beweise der eigenen sozialen Ambitionen zu vermeiden, wenn nicht sogar abzuleugnen. Wollen wir La Bruyères Beobachtungen Glauben schenken, käme seine Verkleidung im vom Parvenü in Auftrag gegebenen Bild somit einem Kaschieren des Kaschierens gleich, also einer doppelten Verneinung der eigenen Identität. Es sei dahingestellt, ob La Bruyère beimVerfassen dieser Zeilen auch die eigene Biografie und soziale Rolle im Auge hatte – auch er war bürgerlicher Herkunft, hatte den eigenen Adelstitel erst dem Kauf eines Amtes in der Finanzverwaltung von Caens im Jahr 1673 zu verdanken und blickte somit selbst auf eine klassische Parvenükarriere zurück.3 Fest steht aber mit Blick auf seine Beobachtungen, dass schon vor dem Beginn des Zeitalters des vermehrten raschen bürgerlichen Aufstiegs ein Problembewusstsein manifest und öffentlich problematisiert wurde, gemäß welchem man sich gegen die vermeintlich auf Täuschung zielenden Selbstinszenierungen des Parvenüs als eines neuen Sozialtyps wappnen zu müssen meinte.4 La Bruyéres Sorge dokumentiert das Bedürfnis nach einer Gegenstrategie, nach einemWeg der sicheren Entlarvung der Parvenüs auch und gerade mithilfe der visuellen Kommunikationsmedien. Dieses blieb in der Folge virulent. Wollte man den Parvenü als solchen ausstellen, galt es, den Graben sichtbar werden zu lassen, der den von ihm erzeugten Schein von seinem tatsächlichen Sein zu trennen schien. chen über allerlei Finten zu kompensieren trachtet. 2 Ebd., S. 345. 3 1693 wurde La Bruyère in die Académie française aufgenommen, wo er nicht zuletzt als Parteigänger der Anciens gegen die Modernes agieren sollte. 4 Zu diesem Komplex vgl. auch Denise Amy Baxter, Parvenu or honnête homme. The collecting practices of Germain-Louis de Chauvelin, in: Journal of the History of Collections, Bd. 20, Nr. 2 (2008), S. 273 –289. Abb. 1 Élisabeth Vigée-Lebrun, Jean de la Bruyère, 1775 (Kopie eines Gemäldes aus dem 17. Jahrhundert), Schloss Versailles

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