Leseprobe

50 Buffon und Shelley Unzählige Male und mit je unterschiedlichen moralischen Gewichtungen ist die Kluft zwischen dem eigentlichenWesen einesMenschen und seiner uneigentlichen Hülle als unüberwindlich ausgewiesen worden. Bereits 1753 erteilte George-Louis Leclerc de Buffon in seiner Antrittsrede in der Académie française mit seinem vielzitiertenWort »Der Stil ist der Mensch selbst«5 wohl nicht zuletzt auch den Hoffnungen des Emporkömmlings auf einen substanziellen und glaubwürdigen Neuentwurf seines Selbst eine klare Absage. Persönlicher Stil – gemeint ist bei Buffon der rhetorische – erwachse aus demDenken, demWesen, der Sprache und demHabitus desMenschen und sei damit sowohl ungleich als auch immun gegenüber jeder äußerlichen Stilisierung: »Wahre Eloquenz setzt die Übung des Genies und die Kultivierung des Geistes voraus. Sie ist etwas völlig anderes als die natürliche Leichtigkeit des Sprechens [...]. Diese Männer [...] markieren sie stark nach außen [...].«6 Das Scheitern jedes entsprechend kalkulierten Schauspiels plausibilisiert Buffon nicht nur über den Verweis auf die nicht zu verkürzende Dauer einer sozialen Identitätsbildung, sondern auch über die bemerkenswerte Fokussierung der Figur des menschlichen Körpers als eigentlichem Fluchtpunkt seiner Argumentation: »Es ist der Körper, der zumKörper spricht.«7 Der Stil sei dieOrdnung der Gedanken und erwachse aus demGeist des Redners: »Die Ideen allein bilden das Fundament des Stils, die Harmonie derWorte ist nur Accessoire und hängt letztlich von der Empfindlichkeit der Organe ab.«8 Im Verbund legen Körper und Sozialisation somit eine geradewegs naturgesetzliche Unterscheidung von echtem, innerlichem und falschem, da äußerlich appliziertem Stil nahe: »Der Stil ist der Mensch selbst. Der Stil kann also weder entfernt noch transportiert noch verändert werden.«9 Ganz im Sinne Buffons wird in der Erzählung ›The Parvenue‹ aus dem Jahr 1836 noch Mary Shelleys in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsene Ich-Erzählerin Fanny, die die eigene Familie über ihre Eheschließung mit dem sozialen Aufsteiger Reginald vom Joch der Armut zu befreien hofft, an der konfrontativ in Stellung gebrachten Diskrepanz zwischen der eigenen Sozialisation und den äußeren Zwängen eines nicht erlernten Kommunikationssystems scheitern, das zwangsläufig als künstlich empfunden werden muss.10 Da Fannys seelische Entwicklung nicht mit dem Glücksrad der Fortuna schrittzuhalten vermag, muss selbst ein Gefallen am Luxus ausbleiben: »Ich könnte und ich würde nicht zwanzig Guineen für ein Kleid ausgeben, während ich mit der gleichen Summe viele traurige Gesichter einkleiden und viel Freude in viele schwere Herzen bringen könnte.«11 So lässt sich ihre Spannung zwischen sozialem Verantwortungsbewusstsein und gesellschaftlicher Etikette am Ende einzig im Verbund mit der Ehe selbst auflösen – an ihrer statt nimmt Reginald ein »high born girl«12 zur Frau. Wenngleich Shelley diemoralische Überlegenheit somit Fanny undmit ihr entschieden dem dritten Stand zuspricht, eint sie doch mit Buffon die Einsicht, dass die eigene, von Dauer geprägte Sozialisation und Identitätsbildung und mit ihnen auch der eigene Erlebnishorizont sich von einer schnell erlernten oder erkauften Äußerlichkeit nicht substanziell umformen lassen. Dem von Buffon auf dem Gebiet der Rhetorik diskutierten und von Shelley literarisierten Problem hatte freilich auch die bildende Kunst zu begegnen: Der Parvenü als Schlüsselfigur sowohl der Beschleunigung13 als auch der Äußerlichkeit und Nachahmung ist ein Darstellungsproblem – nicht nur für diesen selbst, sondern nicht zuletzt auch aus Sicht seiner Kritiker:innen und vermeintlichen 5 »[...] le style est l’homme même«, George-Louis Leclerc de Buffon, Discours sur le style (1753), in: ders., Œuvres complètes de Buffon, hg. von M.F. Cuvier, Paris 1829, Bd. 1, S. 3 –14, hier S. 12. 6 »La véritable éloquence suppose l’exercice du génie et la culture de l’esprit. Elle est bien différente de cette facilité naturelle de parler [...]. Ces hommes [...] le marquent fortement au dehors [...].«, ebd., S. 4. 7 »C’est le corps qui parle au corps«, ebd., S. 4. 8 »Les idées seules forment le fond du style, l’harmonie des paroles n’en est que l’accessoire, et ne dépend que de la sensibilité des organes.«, ebd., S. 11. 9 »[...] le style est l’homme même. Le style ne peut donc ni s’enlever, ni se transporter, ni s’altérer.«, ebd., S. 12. 10 Mary Shelley, The Parvenue (1836), in: dies., Tales and Stories, o.J., o.O., S. 237–246. 11 »I could not, i would not, spend twenty guineas on a gown, while I could dress many sad faces inmiles, and bring much joy to many drooping hearts, by the same sum.«, ebd., S. 241 –242. 12 Ebd., S. 246. 13 Vgl. hierzu meinen Text ›Figuren der Beschleunigung. Zur Unterscheidung von Stil undMode‹ in diesemBand. 14 La Bruyère (wie Anm. 1), S. 340–341. Wenig später

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