51 Opfer. Wie ließe sich ein anwechselhaftenModen und dynamischen Repräsentationsanliegen orientiertes Individuumadäquat ins Bild setzen?Welche visuellenMittel könnten seine ›Arglist‹ entlarven, sein ›falsches Schauspiel‹ markieren und dessen geplante Wirkung ins Leere laufen lassen? Bereits La Bruyères Schrift selbst nennt dieses Darstellungsproblem explizit beim Namen, um die untilgbare Kluft zwischen aufgesetztem und echtem Stil über eine geschickte Wendung beiläufig auch in einen Paragone zwischen dem tagesaktuellen Kommunikationsmediumder Kleidung und dem auf Dauer angelegten Medium der Malerei zu überführen. In einem Gedankenexperiment versetzt sich La Bruyère in die Rolle eines Malers, der beauftragt ist, das flatterhafte Wesen seines Auftraggebers auf die Leinwand zu bannen: »Die Farben sind gemischt, die Leinwand ist aufgespannt. Aber wie nun diesen unruhigen, beweglichen, unbeständigen Menschen, der tausend- und aber tausendmal seine Züge und seinen Charakter verändert, auf die Leinwand bringen? Ich male ihn als Frommen, ich glaube ihn getroffen zu haben; aber er entwischt mir, schon ist er wieder Libertin. Möchte er nun wenigstens in dieser üblen Verfassung verbleiben, so werde ich ihn in einem Moment seiner Herzens- und Geisteswüstheit, worin er gewiß wiederzuerkennen sein wird, aufzufassen wissen. Aber die Mode drängt, und er ist wieder Frömmling.«14 Nach Einschätzung La Bruyères offenbart sich also der Wechsel der Mode als zu schnell für den Pinsel des Malers: Der Werkprozess, mitunter bereits die einzelne Modellsitzung sei zu zeitintensiv, als dass ein Gemälde den Volten des Emporkömmlings gerecht werden könnte. Entsprechend waren auch auf visueller Ebene verschiedene Wege zu erproben, um eben diese Differenz einer gleichsam dem Körper eingeschriebenen Sozialisation und seiner nach Tageslaune gewählten äußeren Hülle zu markieren. Einige der geläufigsten Strategien dieser Überzeichnung, mit denen sich die immer gleichen Dichotomien15 – neuerlich ganz im Sinne Buffons – stets in körperbezogene Klassifizierungen übersetzen ließen, denen in ihren Überzeichnungen von Habitus, Spezies oder Geschlecht stets das Mittel der satirischen Überzeichnung gemein blieb, sollen im Folgenden aufgezeigt werden. Differenzkriterium Habitus: Haltung, Gestik, Mimik Ludwig XIV. von Frankreich war als Zentrum des von La Bruyère so ausführlich beschriebenen sozialen Schauspiels selbst alles andere als ein Emporkömmling. Dennoch mag William M. Thackerays berühmte Karikatur von 1840 (Abb. 2), die den absolutistischen König im Rekurs auf Hyacinthe Rigauds Staatsporträt von 1701/0216 unmissverständlich als eine Art »Anziehpuppe demaskiert«17 und den Sonnenkönig somit retrospektiv buchstäblich als einen Schausteller des Ancien Régime und Rigaud als dessen kunstfertigen Erfüllungsgehilfen ›entlarvt‹ hat, ein instruktives Beispiel für das im Bild zu lösende Problem bieten. Thackerays Verfahren ließe sich dekompositorisch nennen: DieWirerklärt La Bruyère seinen Begriff des Frömmlings wie folgt: »Ein Frömmling ist derjenige, der unter einem atheistischen Könige Atheist sein würde.« Ein wahrer Frommer sei dagegen »geheilt von Prunk und Ehrgeiz«, ebd., S. 342. Der »Scheinheilige« indes »versteht seine Rolle zu spielen« (ebd., S. 343) und behielte sein Publikum gleichsam im Auge. 15 Vgl. hierzu meinen Text ›Figuren der Beschleunigung. Zur Unterscheidung von Stil und Mode‹ in diesem Band. 16 Zu Rigauds im Pariser Louvre befindlichen Porträt Ludwigs XIV. vgl. ausführlich Kirsten Ahrens, Hyacinthe Rigauds Staatsporträt Ludwigs XIV. Typologische und ikonologische Untersuchung zur politischen Aussage des Bildnisses von 1701, Worms 1990. 17 Matthias Müller, Unfassbare Komplexität und überwältigtes Staunen: Die theaterhafte Inszenierung höfischer Räume im Dienst der königlichen Evidenz, in: Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa: Hof – Oper – Architektur, hg. von Margret Scharrer, Heiko Laß, Matthias Müller und Klaus Pietschmann, Heidelberg 2020, S.41 – 65, hier S. 61.
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