Leseprobe

69 drehung des Kopfes. Diese Sonderformdes Kontraposts des Oberkörpers sucht in der Miniaturkunst ihresgleichen, ebenso wie die in zahlreichen anderen Beispielen Rosalbas erotisierenden Frauenbildnisse, diemit meist tiefemDekolleté und versonnenemund schmachtendemBlick imGartenambiente umgeben von Blumen die Betrachtenden betören. Diese ästhetischen Alleinstellungsmerkmale der Kunst Rosalba Carrieras dürften die Konjunktur ihrer Miniaturkunst entscheidend beflügelt haben. Ähnlich aufsehenerregend war Rosalbas Einstieg in die Technik der Pastellmalerei. Diese kam erst in den 1660er-Jahren vereinzelt auf, bis sie zur Mitte des 18. Jahrhunderts der Ölmalerei auch imGroßformat fast den Rang ablief. Insbesondere in der Porträtmalerei entpuppte sich die Kreidetechnik als besonders vorteilhaft, denn die Farbpigmente sind rasch zur Hand und benötigen nach dem Auftrag auf Papier, Pappe oder Leinwand keine Trocknungszeit. Zudem sind sie von intensiver Optik und in der Maltechnik zwischen Zeichnung und Malerei leichter zu beherrschen. Rosalba erkannte früh all die Vorteile der Pastellmalerei und professionalisierte sie für ihre Bildniskunst. Damit erreichte sie eine neue Klientel, die auf der Durchreise in Venedig nicht ausreichend lange verweilte, um ausgedehnte Porträtsitzungen einzuplanen. Carrieras Pastelltechnik erwies sich als günstige Alternative, die Zeit undGeld sparte. Offensichtlich kamen die neuen Vorteile den durchreisenden Auftraggebern und Auftraggeberinnen entgegen, die in Scharen ihr Atelier aufsuchten, das Ergebnis der nun erfrischend kurzweiligen Sitzungen im Gepäck gleich mitnahmen und den Ruhm der jungen Porträtistin aus Venedig rasch in die Welt trugen. Anfangs verlangte Carriera noch acht bis zwölf zecchini pro Bildnis. Um 1730, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, konnte sie über 30 zecchini veranschlagen.14 Das Porträt der Kaiserin Wilhelmine Amalie von Braunschweig-Lüneburg (der Ehefrau von Kaiser Joseph I.) steht exemplarisch für den hohen Stand ihrer Pastelltechnik um 1730.15 Auf dem Format von 65,5 mal 51,5 Zentimetern erscheint der Oberkörper der schwarz gekleideten Kaiserin in der prallen Fülle leiblicher Lebendigkeit. Die deckenden Farben sind auf den ersten Blick kaum von einem Ölgemälde zu unterscheiden und entfalten einen ähnlich lasierenden Schimmer. Das weite Dekolleté ist in grelles Licht getaucht und überstrahlt in seiner weißen Farbe die übrigen Farbtöne, sodass darin jede Kontur etwa eines Brustansatzes untergeht. Im Gesicht mischt sich in den an sich blässlichen Teint eine pulsierende Vitalität in sanft schattierten Rosatönen, während das übrige Kleid und die kopftuchartige Haube in Schwarz sowie der seltsamgraue (sonst in der Porträtmalerei immer leuchtendweiße) Hermelin auf der linken Bildseite vor demgrau-schwarzen Hintergrund den fast düsteren Rahmen bilden. Rosalba führte mit diesem Porträt ihre Virtuosität und unkonventionelle Farbkomposition in der Gattung der Pastellmalerei vor das Auge der Betrachtenden. Sie stellte den hohen innovativen Ansatz der Künstlerinnen-Parvenüs unter Beweis, dem nicht durch Anpassung, sondern vielmehr durch den Aufbruch in neue Welten der bildenden Kunst der schnelle soziale Aufstieg gelingen konnte. Rosalba Carriera war also keine Frau der imitatio, sondern der innovatio, mit der sie ihre Klientel faszinierte und ihre Karriere fundamentierte. Als solche ging sie in die Geschichte ein, wenngleich sie heute kaum noch im kollektiven Gedächtnis verankert ist, wenn nach großen Vertreterinnen und Vertretern der Pastellmalerei gefragt wird. Im Fokus der Geschichtsschreibung steht dann meist Jean-Étienne Liotard (1702–1789), der 29 Jahre jünger als Rosalba war. Sein Ruhm ist nicht unverdient. Das beweist nicht zuletzt das berühmte ›Schokoladenmädchen‹ in Pastell von circa 1744 (Dresden). Dass er aber der Pionierin der Pastellmalerei bisweilen den Rang abläuft, hat Rosalba Carriera nicht verdient. (26.–28.4.2009), hg. von Giuseppe Pavanello, Venedig 2009, S. 45 –96, hier S. 80. Siehe auch die hilfreiche und umsichtige OnlineEdition von Neil Jeffares, Pastels & Pastellists. The Dictionary of Pastellists before 1800. Letztes Update am 9.3.2022 der URL zu Rosalba Carriera: http://www.pastellists.com/articles/Carriera.pdf [Zugriff: 24.4.2022]. Zu Carrieras Pastellmalerei als früher Karrierefaktor vgl. Oberer (wie Anm. 7), Kp. 2. 15 Heute in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (Inv.-Nr. P20).

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