199 der chinesischenGesellschaft und kaumBeschreibungen von Keramiken beinhalten. Die zwei bekanntesten mittelalterlichen Quellen über China bilden die Reiseberichte des Franziskaners Wilhelm von Rubruck und der Bericht des venezianischen Kaufmanns Marco Polo. Wilhelm von Rubruck wurde 1253 durch den französischen König Ludwig IX. zunächst nach Südrussland geschickt, ummissionarisch tätig zu sein. Von dort reiste er nach Karakorum zum Großkhan Möngke in die Mongolei, wo er vergeblich versuchte, diesen zum Christentum zu bekehren. Nach seiner Rückkehr nach Europa berichtete er von seiner Reise allerhand Außergewöhnliches über die Bewohner:innen von Cathay, bediente aber aus heutiger Sicht auch Stereotype, so findet etwa die Form der Augen explizit Erwähnung.9 Der Reisebericht ›Il Milione‹ von Marco Polo wird in der Literatur beständig als wichtigste frühe Quelle für das Chinaverständnis Europas angeführt. In Bezug auf Porzellan, das Polo als einer der ersten von seiner Reise aus China nach Europa gebracht haben soll, berichtet er im Kapitel 158 Folgendes: »Noch etwas will ich euch erzählen: in einer der Provinzstädte mit demNamen Tiungiu werden wunderbare große und kleine Porzellanschalen hergestellt. Nur in dieser einzigen Stadt gibt es die prächtige Ware; von hier wird sie in die ganze Welt ausgeführt. In Tiungiu sind die Schalen nicht teuer, für einen venezianischen Groschen erhält man ohne weiteres drei Stück von unbeschreiblicher Schönheit. Und so wird das Porzellan hergestellt: Handwerker aus der Stadt schichten aus Schlamm und lockerer Erde recht hohe Hügel auf und lassen diese dreißig oder vierzig Jahre ruhen. In der langen Zeitspanne, während der die Hügel von den Menschen nicht angerührt werden, entsteht der feine, geschmeidige Grundstoff. [...] Ihr müsst euch jetzt vorstellen: der Mann, der den Hügel errichtet, tut dies für seine Kinder; denn die Schichten müssen so lange in Ruhe gelassen werden, dass er selbst weder die Gefäße formen noch einen Gewinn aus ihnen ziehen kann. Der Sohn erst wird die Früchte der väterlichen Vorarbeit ernten.«10 Marco Polos Bericht über die Porzellanherstellung wurde im Hinblick auf seine Glaubwürdigkeit oft angezweifelt, zuletzt von Gerritsen und MacDowall (2012),11 dabei wies Otto-Ernst Radczewski bereits 1968 darauf hin, dass kaolinhaltige Tonerde, die nach der natürlichen Verwitterung abgebaut, aufgearbeitet und vor der Weiterverarbeitung ruhen gelassen wird, eine feinere Qualität aufweist.12 In einem Experiment konnten Henrikson und Fleming zudem unlängst nachweisen, dass mikrobiologische Verkeimung, die während der Ruhephase in der Tonerde stattfindet, für eine höhere Plastizität des Materials sorgt.13 Die Beschreibung Marco Polos über die Entstehung feiner Porzellane in China ist nach heutigem wissenschaftlichen Stand durchaus plausibel. Die beschriebene Herstellung und die Pracht der Porzellane müssen die Vorstellungskraft seiner Zeitgenoss:innen und nachfolgender Generationen jedoch gesprengt haben, denn es gab nichts Vergleichbares in Europa. Porzellanobjekte Göttern und Heiligen zuzuordnen, lag also nahe. Eine erste Aufnahme Chinas in europäische Literatur außerhalb der Reiseberichte erfolgte im Lauf des 16. Jahrhunderts mit politischemHintergrund. Mit der Erstausgabe von ThomasMorus’ ›Utopia‹ (1516) bekamdie Frage nach der idealen Staatsordnung eine andere Dimension, die sich im folgenden Jahrhundert in den Utopien wie Tommaso Campanellas ›Sonnenstaat‹ (1602) und Francis Bacons ›Neu-Atlantis‹ (1627) mit den Vorstellungen der Reisebeschreibungen vermischte.14 China spielte 9 Hartmut Walravens, China illustrata. Das europäische Chinaverständnis im Spiegel des 16. bis 18. Jahrhunderts (Ausst.-Kat. Zeughaus der Herzog-August-Bibliothek), Hannover 1987, S. 123 –124. 10 Zitiert nach Marco Polo, DieWunder derWelt. Il Milione, Übersetzung aus altfranzösischen und lateinischenQuellen undNachwort von Elise Guignard, Frankfurt amMain/Leipzig 2003, S. 241. 11 Anne Gerritsen und StephenMcDowall: Material Culture and the Other. European Encounters with Chinese Porcelain, ca. 1650– 1800, in: Journal of World History Vol. 23, No. 1, SPECIAL ISSUE: GLOBAL CHINA (März 2012), S. 87–113, URL: https://www.jstor.org/ stable/41508052?read-now=1&refreqid=excelsior%3A52c74c23810924e2a0e7b439cdc4433f&seq=7#page_scan_tab_contents [Zugriff: 8.8.2022]. 12 Otto-Ernst Radczewski, Die Lagerstätten der keramischen Rohstoffe, in: ders., Die Rohstoffe der Keramik, Berlin/Heidelberg 1968, S. 90–132, insb. S. 91, URL: https://doi.org/10.1007/978-3-642-92968-7_7 [Zugriff: 8.8.2022]. 13 John Henrikson und Ted Fleming: The Effect of Microbial Contamination upon the Plasticity of Ceramic Clays, in: Undergraduate Research Journal for the Human Sciences, Volume 11 (2012), URL: https://www.kon.org/urc/v11/henrikson.html [Zugriff: 8.8.2022]. 14 Siehe hierzu: Christina Kallieris, Inventis addere. Chinesische Gartenkunst und englische Landschaftsgärten. Die Auswirkungen von Utopien und Reisebeschreibungen auf gartentheoretische Schriften Englands im 18. Jahrhundert (Diss. Köln; Benrather Schriften. Bibliothek zur Schlossarchitektur des 18. Jahrhunderts und zur Europäischen Gartenkunst, Bd. 5), Worms 2012, S. 13 –26 u. 68–90.
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1