Leseprobe

Zeichnungen und Aquarelle des 18. und 19. Jahrhunderts

SANDSTE I N Herausgegeben von Frédéric Bußmann und Kerstin Drechsel Zeichnungen und Aquarelle des 18. und 19. Jahrhunderts

FRÉDÉRIC BUSSMANN 6 Vorwort KERSTIN DRECHSEL UND ANETTE K INDLER 10 Zur Geschichte der Grafischen Sammlung REINHARD WEGNER 28 Gesammelte Werke Über 100 Jahre Landschaftskunst aus der Grafischen Sammlung Chemnitz im Kontext der Kunstgeschichte 52 100 Zeichnungen und Aquarelle Katalog 244 Metamorphosen Clemens Tremmel Kerstin Skringer Nora Mona Bach 254 Anmerkungen und Abkürzungen 255 Bildnachweis 256 Impressum

KERST I N DRECHS E L ANE T T E K I ND L ER

12 Vor 100 Jahren, am 1.November 1923, wurde im städtischen Museum die Grafiksammlung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Gründung des Graphikkabinetts, 1997 umbenannt in Grafische Sammlung, ist im Wesentlichen dem enormen Engagement des damaligen Museumsdirektors Friedrich Schreiber-Weigand (1879–1953) zu verdanken.Von großer Wichtigkeit war ihm,die fehlende öffentliche Präsenz der Kunst auf Papier zu verändern und die Bestände der Kunsthütte und der städtischen Sammlung zusammenzuführen. Die Anfänge Den Grundstock einer öffentlichen Kunstsammlung in Chemnitz legte der Kunstverein Kunsthütte. Dieser wurde 1860 in der Stadt von »Chemnitzer Künstlern und Kunstfreunden« mit dem Vorsatz gegründet, »unter seinen Mitgliedern eine Würdigung der bildenden Künste zu erwecken und die Interessen derselben zu fördern und zu wahren«.1 Die Aktivitäten des neu gegründeten Vereins – Ausstellungen, Vorträge, Kunstverlosungen – entsprachen durchaus denen eines klassischen bürgerlichen Kunstvereins,wie sie sich seit dem beginnenden 19.Jahrhundert in vielen anderen größeren Städten Deutschlands bildeten. In den folgenden Jahren begann die Kunsthütte, eine eigene Sammlung aufzubauen, wenn auch die Schenkungen und Ankäufe zunächst eher zufällig und ohne Konzept erfolgten. Bereits 1862 stifteten Künstler, die zugleich Mitglieder der Kunsthütte waren, erste Bilder zur Ausschmückung der Kunsthütte. 1866 wurde das erste Ölgemälde, Bajazzo von Christian Ferdinand Gonne,dem Verein übereignet,ebenfalls von einemMitglied.2 An die Schenkung war die Bedingung geknüpft, dass die Kunsthütte in den nächsten vier Jahren jährlich 150 Mark für Ankäufe von Kunstwerken für die eigene Sammlung aufzubringen habe. Im Verzeichnis der zur Sammlung der Kunsthütte in Chemnitz gehörigen Werke3 findet sich der erste Eintrag für Grafik am 8.Juli 1868. Es handelt sich um die beiden Zyklen Der Fürsten Jagd-Lust (1729) und Das Carusel (1761) des Augsburger Grafikers Johann Elias Ridinger mit insgesamt 93 Kupferstichen, ein Geschenk des Geheimen Hofrats O. Kohl aus Chemnitz. Insgesamt ging der Aufbau einer grafischen Sammlung zwar sporadisch, aber mit stetigem Zuwachs voran.Emil Walther berichtet in der Chronik zum 50-jährigen Bestehen der Kunsthütte,dass im Jahr 1900 die eigene Sammlung bereits sieben Originalzeichnungen sowie 481 Werke und Blätter der vervielfältigenden Künste umfasst habe.4 Als sammlungswürdig wurde später jedoch mit knapp 190 Blättern nur ein Teil davon in die Inventare der Zeichnungen und Druckgrafiken aufgenommen. Als erste Zeichnung ist 1875 der Ankauf des Aquarells Münster in Straßburg von Friedrich Eibner vermerkt. Im Dezember 1883 wurde mit sechs Handzeichnungen und 92 Druckgrafiken aus der Vogel’schen Sammlung ein größeres Konvolut erworben; die Grafikkollektion umfasst Radierungen,Kupferstiche,Holzschnitte beziehungsweise Reproduktionsgrafik hauptsächlich von Meistern des 16. bis 18.Jahrhunderts. Als Mitglied des Sächsischen Kunstvereins, der Verbindung historischer Kunst, des Württembergischen Kunstvereins und vieler anderer Kunstvereine bezog die Kunsthütte außerdem Prämienblätter und nahm an den jeweiligen Kunstverlosungen teil. Ansonsten überwogen Erwerbungen und Schenkungen von Werken regionaler Künstler. 1881 konnte in der sogenannten Lechla’schen Villa in der Annaberger Straße, die seit 1868 der Kunsthütte als Domizil diente, durch Räumung eines Kontors ein Kabinett geschaffen werden, das ausschließlich für die Präsentation grafischer Kunst bestimmt war.5 Damit war ein wichtiger Schritt zur Zugänglichkeit der zumeist kleinformatigen Arbeiten auf Papier unter Berücksichtigung des eigenständigen Charakters des Mediums getan. 1 Statuten der Kunsthütte in Chemnitz, Chemnitz: Druck von J. W. Seidel 1860. Zur Geschichte der Kunsthütte s. Emil Walther, Geschichte der Kunsthütte in Chemnitz 1860– 1910 in den ersten fünfzig Jahren ihres Bestehens. Festschrift zur goldenen Jubelfeier des Vereins am 24.Januar 1910, Chemnitz: J.C.F. Pickelhan & Sohn 1910; Brigitta Milde, »Die Vorgeschichte der Kunstsammlungen Chemnitz«, in: Im Morgenlicht der Republik. 100 Jahre Kunstsammlungen Chemnitz, hrsg. v. Frédéric Bußmann, Brigitta Milde, Leipzig: E.A. Seemann Verlag 2020, S.18–28. 2 Geschenkt von Victor Langheineken. Walther 1910 (wie Anm.1), S.13. 3 Verzeichnis der zur Sammlung der Kunsthütte in Chemnitz gehörigen Werke, in: Kunstsammlungen Chemnitz, Grafische Sammlung, Archiv, Nr.4. Es handelt sich wohl um das erste angelegte Verzeichnis der Kunstwerke der Kunsthütte, ein von 1868 bis 1913 geführtes Zugangsbuch für Kunst, in dem die Gattungen noch nicht getrennt wurden. Später (vermutlich erst 1912/1913, vgl. Anm.8) wurden die Werke in separate Inventare für Gemälde, Plastik, Aquarelle und Zeichnungen sowie Druckgrafik übertragen. Allerdings wurden nicht alle Werke in die Inventare übernommen. Dies gilt z.B. für Serien von Fotografien berühmter Bauwerke bzw. Reproduktionen von Kunstwerken, nicht sammlungswürdige Blätter oder andere, aus verschiedenen, heute nicht immer nachvollziehbaren Gründen aussortierte Werke. 4 Walther 1910 (wie Anm.1), S.48. 5 Ebd., S.29 f.

13 1909 fanden die Kunsthütte samt ihrer Sammlung zusammen mit weiteren Vereinen im König-Albert-Museum ein neues Zuhause. In Anwesenheit des sächsischen Königs Friedrich August III. wurde das mit städtischen Mitteln nach Plänen des Stadtbaurats Richard Möbius (1892–1952) gebaute Ensemble Museum und Theater am ehemaligen Neustädter Mark feierlich eröffnet. Eine Zäsur für die Sammlungsgeschichte bildete imMärz 1911 die Wahl Friedrich Schreibers zum Ausstellungsleiter der Kunsthütte. Schreiber – erst 1918 nahm er den Doppelnamen Schreiber-Weigand an,um den mütterlichen Familiennamen,der sonst erloschen wäre,zu erhalten – war 1879 in Chemnitz geboren worden, stammte aus einer musischen Familie und arbeitete als Lehrer. Das Amt des Ausstellungsleiters übte er nebenberuflich aus. Er entwickelte ein vorwärtsweisendes Ausstellungs- und Sammlungskonzept. Unter seinem Einfluss öffnete sich die Sammlung für zeitgenössische moderne Strömungen der Kunst.6 Wichtige Erfahrungen und Impulse zu Beginn seiner Museumslaufbahn verdankte er der IV.Graphischen Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes, die auf Initiative des Chemnitzer Unternehmers Hans Vogel (1867–1941) 1912 in Chemnitz stattfand.7 Der deutsche Künstlerbund, 1903 auf Anregung des Kunstförderers Harry Graf Kessler von Lovis Corinth, Max Klinger, Alfred Lichtwark und Max Liebermann gegründet,bündelte verschiedene zeitgenössische Strömungen der Kunst und war einst gegen eine Bevormundung durch die offizielle Kunstpolitik im Kaiserreich und für die Freiheit der Kunst angetreten. Zusammen mit Graf Leopold von Kalckreuth und Max Klinger hatten auf der Seite der Kunsthütte Friedrich Schreiber und Hans Vogel die künstlerische Leitung der Ausstellung inne. Das überregionale Ausstellungsprojekt,mit dem Chemnitz erstmals in den Blickpunkt eines öffentlichen nationalen Kunstpublikums geriet, ermöglichte Schreiber-Weigand wichtige Kontakte zu führenden deutschen Künstlern und erweiterte seinen künstlerischen Horizont ungemein. In der Stadt förderte die Schau wesentlich das Interesse an der Gattung Grafik und gab der Sammeltätigkeit einen besonderen Auftrieb. Für die Kunsthütte wurden 15 Druckgrafiken, für die Städtische Sammlung 35 Druckgrafiken und sieben Zeichnungen angekauft. Darunter waren Werke der Impressionisten Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt, Blätter von Leopold von Kalckreuth, dem parallel in Chemnitz eine Sonderausstellung gewidmet war, sowie Werke einer jüngeren Generation wie Hans Meid, Max Beckmann oder Wilhelm Lehmbruck. Ausgewählt wurden aber auch Arbeiten von Mitgliedern der Künstlergruppe Chemnitz. Die Kunsthütte begann von diesem Zeitpunkt an, ihre grafischen Werke genau zu katalogisieren und die Blätter in Passepartouts zu montieren.8 Vermutlich wurden in diesem Zusammenhang auch die Inventarbücher angelegt. Dass der Ausbau der städtischen grafischen Sammlung und die Schaffung eines eigenen Studiensaals für Grafik mit angeschlossener Handbibliothek dem engagierten Ausstellungsleiter Friedrich Schreiber schon sehr früh ein essenzielles Anliegen waren, beweist ein solches Konzept, das er im Oktober 1913 dem städtischen Ausschuss für das König-Albert-Museum vorstellte, um damit ganz konkret für die Bereitstellung finanzieller Mittel zu werben.9 Schlüssig setzte er sich dafür ein, vor allem Kunst der Gegenwart zu erwerben und aus Kostengründen die Druckgrafik gegenüber der Zeichnung zu favorisieren. Er wünschte sich einen jährlichen Ankaufsetat für Grafik und Kunstliteratur sowie Entscheidungsfreiheit für sich und eine Sammlungskommission bei den Erwerbungen. Eine Zugänglichkeit und die Nutzbarkeit für die Öffentlichkeit – hier bezog er auch den Grafikbestand der Kunsthütte mit ein – hatten dabei oberste Priorität, und so suchte er nach räumlichen Alternativen dafür: »Die Blätter der städtischen graphischen Sammlung, unter Passepartouts gelegt und mit den nötigen Angaben versehen, werden mit denen 6 Vgl. Brigitta Milde, »Die Städtische Kunstsammlung Chemnitz und ihr erster Direktor Friedrich Schreiber-Weigand«, in: Chemnitz – Aufbruch in die Moderne. Reformen – Ansätze – Widerstände. Beiträge zur Stadtgeschichte 1918–1933, hrsg. v. Stadtarchiv Chemnitz, Leipzig: O. K. Grafik 2010, S.149–170; sowie die Beiträge zur Städtischen Kunstsammlung in: Bußmann/Milde 2020 (wie Anm.1). 7 4.Graphische Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes, veranstaltet von der Kunsthütte zu Chemnitz im König-Albert-Museum, Ausst.-Kat. Chemnitz, Kunsthütte zu Chemnitz Mai – Juni 1912, Chemnitz: J.F.C. Pickenhahn & Sohn 1912; Jahresbericht der Kunsthütte zu Chemnitz 1910–1911, https://digital. slub-dresden.de/werkansicht/dlf/91577/1/ (1868–1919) (Zugriff am 7.11.2022), S.7. 8 Friedrich Schreiber-Weigand, »Über die zukünftige Organisation und den zukünftigen Ausbau der Städtischen Kunstsammlung, 21.7.1920«, in: Graphik-Sammlung betreffend 1920–1928, Stadtarchiv Chemnitz III X 68, S.3. 9 Friedrich Schreiber-Weigand, »Zu einem eventuellen Ausbau der graphischen Sammlung der Stadt Chemnitz, 8.10.1913«, in: Ankäufe und Schenkungen für das König Albert-Museum, 1909–1919, Stadtarchiv Chemnitz III X 31, S.107–110.

14 der Kunsthütte gemeinsam in Kästen, wie sie jedes Kupferstichkabinett besitzt, aufbewahrt. Die Passepartouts tragen natürlich den Eigentumsstempel [...] Die Kästen werden in einem Schrank,der auf der Nordgalerie aufgestellt ist, aufbewahrt. Hier kann auch auf schrägen Schaupulten (Fensterseite) eine wechselnde Ausstellung stattfinden.Die Nordgalerie bietet an der Fensterseite vielleicht auch Raum, zwei Tische mit doppelter Sitzgelegenheit aufstellen zu lassen. Hier können die Mappen auf besonderen Wunsch (ein Kontrollzettel ist auszufüllen) vom Diener verabreicht werden. Der Raum hat gutes Licht, ist sehr ruhig gelegen, wäre zur Not auch am Abend durch die Seitentreppe zugänglich zu machen. Natürlich bedeutet dieser Zustand ein Provisorium. Sobald einmal neue Sammlungsräume durch Verlegung der Vorbildersammlung gewonnen sein werden, würde der bisherige Lesesaal ein besonders geeigneter Raum für die Graphik sein.«10 Mit Rücksicht auf die Finanzlage wurde der Antrag Schreibers von Seiten der Stadt abgelehnt.11 Der Antragsteller behielt jedoch in den nächsten Jahren sein Anliegen, das er mit weiteren Eingaben immer wieder in Erinnerung brachte, fest im Blick. Unterstützung bekam er 1919 von Ludwig Buschkiehl (1848–1939), dem Vorsitzenden der Kunsthütte,der in einem Schreiben an die Stadt ebenso eindringlich auf das Fehlen eines Kupferstichkabinetts mit Vorlagemöglichkeit von Originalgrafiken aufmerksam machte.12 Mit der Gründung der Städtischen Kunstsammlung am 1.April 1920 wurde eine offizielle Regelung für die Verwaltung des städtischen Kunstbesitzes geschaffen, der seit 1907 kontinuierlich angewachsen und bisher von der Kunsthütte verwahrt worden war.Als erster Direktor wurde Friedrich Schreiber-Weigand,der in Personalunion auch weiterhin gleichzeitig als Ausstellungsleiter für die Kunsthütte tätig war, berufen.13 In dieser Doppelfunktion hatte er nun die Möglichkeit, ein Sammlungsprofil beider Körperschaften, das aufeinander abgestimmt war, zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt umfasste die kommunale Sammlung neben den Gemälden und Plastiken 81 Zeichnungen und 291 Druckgrafiken.Arbeiten auf Papier hatten zu den ersten umfassenden Schenkungen des in Dresden lebenden Chemnitzer Kaufmanns Bruno Liebe (1847–1918) an die Stadt in den Jahren 1907 und 1912 gehört, 10 Ebd., S.109 f. »Nordgalerie« bezieht sich auf die Räume der Kunsthütte im zweiten Obergeschoss, »der besonders geeignete Raum« für die grafische Sammlung bezieht sich auf den Zeichensaal der Vorbildersammlung im ersten Obergeschoss. 11 Ebd., S.111. 12 »Eingabe des Vorstandes der Kunsthütte, 14.10.1919«, in: Allgemeine Angelegenheiten des König Albert Museums, 1920–1921, Stadtarchiv Chemnitz III X 33, S.24–26. 13 1920 unter der Bezeichnung »Leiter« noch nebenamtlich, seit 1923 vollberuflich und mit der Amtsbezeichnung »Direktor«. Abb. 1 Jury und Ausstellungsleitung der IV. Graphischen Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes 1912, stehend v. l. n. r.: Friedrich Schreiber, Hans Vogel, Fritz Mackensen, Theodor Brodersen, sitzend v. l. n. r.: Hans von Volkmann, Carlos Grethe, Max Klinger, Karl Bantzer

15 den Schreiber-Weigand im Nachhinein als »eigentlichen Begründer der Städtischen Kunstsammlung«14 apostrophiert hatte.Ankäufe aus der IV.Graphischen Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes, von Klinger-Grafik auf einer Auktion bei Beyer in Leipzig sowie Erwerbungen der Künstlerkriegshilfe gehörten ebenfalls zum städtischen Kunstbesitz. Die Kunsthütte konnte auf etwa 850 Grafiken und 209 Zeichnungen verweisen. Seit 1910 wurde in größerem Umfang das grafische Werk von Albert Welti gesammelt. Käthe Kollwitz war mit 27 Arbeiten vertreten, und zunehmend waren in den letzten Jahren auch Werke der Brücke-Künstler in den Bestand gelangt. Im Bereich der Zeichnung ist die Schenkung des Fabrikbesitzers Hugo Oppenheim (1861– 1921) im Jahr 1910 von 82 Studien zu dem Gemälde Golgatha von Mihály von Munkácsy zu erwähnen. Gründung des Graphikkabinetts Einige Monate nach seinem Amtsantritt legte Friedrich Schreiber-Weigand der Stadt Chemnitz ein Konzept vor, wie zukünftige Strukturen, insbesondere das Verhältnis von Stadt und Kunsthütte sowie den weiteren Ausbau der Sammlung betreffend, entwickelt werden müssten.15 Besonderen Raum nahm die Grafiksammlung – unter Verweis auf seine früheren Eingaben in dieser Sache – ein, da hierfür etwas Neues zu schaffen sei. »Die Werke lagen bisher wohlgeordnet, gut montiert und gut aufgehoben unproduktiv in Schränken verstaut,weil kein Raum vorhanden war,wo sie der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden konnten.«16 Um diesen von ihm benannten Missstand zu beheben, schlug er vor, »einen besonderen Raummit Ausleihemöglichkeit [sic] bereitzustellen; also ein graphisches Kabinett zu schaffen, wo die Blätter unter Aufsicht jedermann zugänglich gemacht werden können«. In dem angedachten Kabinett sollten beide grafischen Sammlungen zusammengeführt werden,17 ergänzt durch eine freihändige Kunstbibliothek mit Nachschlagewerken, Werkverzeichnissen und Kunstzeitschriften, um allen Interessierten ein Selbststudium und Lektüre zu ermöglichen.Zur allgemeinen Bildung plante er ferner, eine Sammlung mit Reproduktionen bedeutender Kunstwerke und grafischer Meisterwerke sowie Fotografien von Kunstdenkmalen anzulegen. Sein leidenschaftliches Engagement und seine Beharrlichkeit wurden schließlich belohnt: Museumsausschuss und Rat der Stadt bewilligten ihm diesmal die Mittel zum Ausbau der grafischen Sammlung. Erfolgreich verliefen auch die Verhandlungen mit dem Handwerksverein zur Abgabe von Räumen des Gewerbemuseums.18 Dem Graphikkabinett wurden der letzte Raum und das anschließende Eckzimmer im Ostflügel des Erdgeschosses zugewiesen. Ein direkter Zugang war über das seitliche Treppenhaus von der Museumsstraße (heute Käthe-KollwitzStraße) möglich. In der folgenden Zeit mobilisierte Schreiber-Weigand enorme Energien für die Planung und Einrichtung der neuen Räumlichkeiten.Als Sponsoren für Kunstankäufe und für die Inneneinrichtung der Räume konnte er Chemnitzer Bürger und Firmen gewinnen.19 Für das ambitionierte Vorhaben bat er Künstler ganz gezielt um Schenkungen – mit dem Argument der zukünftigen Kabinetteröffnung. So stifteten unter anderem Max Beckmann, Lovis Corinth, Erich Heckel, Max Liebermann und Otto Mueller der Städtischen Kunstsammlung Blätter.20 Für Schreiber-Weigand war in der Zeit der Vorbereitung der Eröffnung des Graphikkabinetts der Ankauf von sogenannten Reichsdrucken von großer Wichtigkeit.21 Mit verhältnismäßig geringem finanziellen Aufwand konnte er so Grafik des 16. bis 19.Jahrhunderts in äußerst qualitätvollen Faksimiledrucken als Anschauungsmaterial zum Studium zur Verfügung stellen. Die Besucher im Studiensaal sollten durch 14 Schreiber-Weigand 1920 (wie Anm.8), S.1. 15 Ebd., S.1–5. 16 Ebd., S.3. Zur Planung und Gründung des Graphikkabinetts s. auch Kerstin Drechsel, »Die Gründung der grafischen Sammlung als Graphikkabinett mit eigenem Studiensaal«, in: Bußmann/Milde 2020 (wie Anm.1), S.170–173. 17 Juristisch blieb der Bestand beider Körperschaften unvereint, für die Kunstwerke wurden getrennte Inventare geführt. Der Verein Kunsthütte wurde 1947 aufgelöst, und de jure gelangte der Kunstbesitz 1950 in städtischen Besitz. 18 Schreiber-Weigand 1920 (wie Anm.8), S.9. 19 Friedrich Schreiber-Weigand, »An die Museumsverwaltung Chemnitz, 26.10.1923«, in: Graphik-Sammlung betreffend 1920–1928, Stadtarchiv Chemnitz III X 68, S.15. Die Innenausstattung des Kabinetts wurde von Stadtrat und Fabrikbesitzer Paul Lange gesponsert. Im Schreiben an die Museumsverwaltung sind noch weitere Sponsoren erwähnt: Hans Stickel, Jean Hoppe, Prof. Dr. Mütterlein, Heumer sowie folgende Firmen: Elektrizitäts-A.-G., vorm. Hermann Pöge, C. G. Haubold, A. G., G.Otto Müller, C. T. Steinert, Bruno Schellenberger, Richard Zieger, I. G. Leistner, R. Hösel & Co. 20 Friedrich Schreiber-Weigand an Otto Mueller, 30.5.1922, in: Briefwechsel 1921– 1932, Kunstsammlungen Chemnitz, Grafische Sammlung, Archiv. 21 Als Stifterin für den Ankauf von 200 Reichsdrucken konnte Betty Oppenheim (1872– 1943), die Witwe des Fabrikbesitzers Hugo Oppenheim, gewonnen werden. Akten des Rates der Stadt Chemnitz betreffend Ankäufe und Schenkungen für das König AlbertMuseum, Stadtarchiv Chemnitz III X 31, S.162.

RE I NHARD WEGNER Über 100 Jahre Landschaftskunst aus der Grafischen Sammlung Chemnitz im Kontext der Kunstgeschichte

30 Die Kunstsammlungen Chemnitz können als eine bürgerschaftliche Gründung auf einen reichen Bestand grafischer Arbeiten des 19.Jahrhunderts verweisen.Das Verhältnis zur Natur prägte seit der Romantik in besonderer Weise das Denken und die Empfindungen des modernen Menschen, zumal in einer Stadt, die für den Aufbruch in das industrielle Zeitalter stand. Ganz pragmatisch aber spricht auch die Nähe zu Dresden für die Vielzahl von Landschaftszeichnungen im Besitz privater Sammler. Die Kunstmetropole an der Elbe zog wie keine andere Stadt seit dem späten 18.Jahrhundert immer wieder berühmte Landschaftsmaler an, und junge Talente reiften dort zu bedeutenden Zeichenkünstlern. Wenn in Chemnitz bevorzugt Werke aus Dresden zu bewundern waren, zeugt dies für eine hohe Wertschätzung lokaler, aber keineswegs provinzieller Kunst. Der Blick auf die hier ausgestellten Arbeiten soll in chronologischer Folge die engen Verbindungen der sächsischen Malerei mit den europäischen Kunstzentren sichtbar werden lassen. Neue Horizonte Am Sonntag,den 18.Dezember 1768, traf der junge Jakob Philipp Hackert in Begleitung seines Bruders aus Frankreich kommend in Rom ein. Wenige Tage vor Weihnachten bezogen beide Quartier an der Piazza di Spagna, ein auch damals schon bei deutschen Künstlern beliebter Treffpunkt im Zentrum der Stadt. Noch nahm kaum jemand Notiz von den beiden Landschaftsmalern aus Prenzlau, aber schon bald sollte Jakob Philipp zu den bekanntesten Künstlern seiner Zeit gehören, dessen idealisierte Ansichten aus Italien in ganz Europa ihre Liebhaber fanden.Die ersten Monate in Rom zehrte er allerdings noch von den Unterweisungen bei seinem Lehrer Johann Georg Wille in Paris. Größer konnten für Hackert die Gegensätze in der Auffassung von Landschaftsmalerei aus den vergangenen Jahren und den vor ihm liegenden goldenen Zeiten kaum sein.Wille forderte von seinen Schülern eine genaue Wiedergabe des Sujets, ohne dass der Künstler in die von der Natur vorgegebene Ordnung der Dinge einzugreifen hatte.Die Motive sollten ganz dem einfachen ländlichen Milieu entliehen sein. Vorbilder fand Wille in der niederländischen Kunst des 17. und 18.Jahrhunderts (Abb.1). Die nordische Landschaft mit ihrem tiefen Horizont, den vom Wind gebeugten Bäumen und dem wolkenverhangenen Himmel bot ihm und seinem Schülerkreis eine überreiche Fülle an Studienmaterial. Überraschend schnell eignete sich Hackert jedoch in Italien neue Bildkonzepte an.Bereits um 1770 konnte er mit den idealisierten Landschaften aus Rom und seiner Umgebung prominente Kunsthändler, Archäologen und zahlungskräftige Reisende des europäischen Adels auf ihrer Grand Tour für sich gewinnen. Zielsicher traf er mit seinen Bildern die Erwartungen seiner Zeitgenossen an ein Italien,dessen landschaftliche Schönheiten und Erinnerungen an die Antike erfüllt und wachgehalten wurden (Abb.2). »Viele Landschaften machen uns ein außerordentlich Vergnügen,wenn sie uns Gegenden vorstellen,wo große Thaten geschehen sind, als Schlachten und andere große Begebenheiten der Geschichte. Wenn Reisende solche Gegenden gesehen haben, und finden sie nun mit Treue und angenehmer Wahrheit im Gemälde vorgestellt, so erweckt es ihnen eine ganze Reihe historischer und anderer bedeutender Vorstellungen.«1 Die arkadischen Szenerien aus Italien hatten nun nichts mehr mit der rauen Natur gemein, die Hackert noch wenige Jahre zuvor als Schüler Willes in Frankreich zeichnete. 1 Jakob Philipp Hackert, »Über Landschaftsmalerei«, in: Goethes Werke,Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd.46, Weimar: Böhlau 1891, S.377.

31 Abb. 1 Johann Georg Wille Altes Paar vor Strohhütte, 1763 Feder und Pinsel in Braun auf Papier, altmontiert, mit Goldrahmung, 19,3×28,1 cm, Frankfurt am Main, Städel Museum, Inv.-Nr. 1737 Abb. 2 Jakob Philipp Hackert Ansicht von Rom mit San Giovanni in Laterano, 1784 Kupferstich, 35,4×50,6 cm, Privatbesitz

32 Hackert und Wille seien hier exemplarisch als Protagonisten zweier gegensätzlicher Ideale von Landschaftsmalerei im späten 18.Jahrhundert eingeführt. Ein vertiefender Blick auf diese Kunstgattung zeigt uns allerdings, welche Breite das gesamte Spektrum der Auffassungen von Naturdarstellungen besaß, wie eng diese Vielfalt an Konzepten aber auch miteinander verbunden war.Unzählige Traktate über Landschaftsmalerei zeugen von der großen Bedeutung,die der Landschaft als Bildmotiv seit der Romantik zukam. An den Akademien hatten die jungen Künstler wohl ihre Mühe, manche langatmigen Anleitungen zur Perspektivlehre, zu Tag- und Nachtstücken, zur Geologie oder zum Studium der Wolken, der Gewässer, der verschiedenen Baum- und Laubformen und zur Frage, ob und welche Figuren in den entsprechenden Landschaftsräumen angemessen seien, zu studieren. Einerseits verpflichteten die Lehranstalten und ihre Professoren die angehenden Künstler zur genauen Lektüre der einschlägigen Literatur und zur Einhaltung der darin festgeschriebenen Regeln, andererseits aber eröffnete die Landschaft mit ihren vielfältigen Erscheinungsformen den angehenden Malern auch individuelle Freiheiten der Gestaltung von Naturszenen.2 Um 1800 räumte man dem Unterricht im Landschaftsfach auch an den Akademien einen höheren Rang ein. Königsdisziplinen der Ausbildung blieben jedoch die Porträtkunst und die Historienmalerei. Mit der zunehmenden Wertschätzung der Darstellung landschaftlicher Räume ging ein Wandel in den Produktionsprozessen von Bildern einher. Die Entwürfe und Skizzen, ja sogar ganze Gemälde entstanden mit der Zeit nicht mehr im Atelier, sondern vor Ort in der freien Natur. Viele Künstler eigneten sich dadurch neue Techniken des Malens und des Zeichnens an, und sie lernten den Umgang mit lange Zeit wenig beachteten Materialien wie etwa den Aquarellfarben. Hinzu kamen für den Transport geeignete optische Hilfsmittel wie die Camera obscura und Camera lucida. Damit ließen sich Naturphänomene direkt auf ein Blatt Papier projizieren, die es dann nur noch nachzuzeichnen galt. Die Ausbildung zum Landschaftsmaler setzte mehrere Jahre intensiven Studiums und praktischer Übungen voraus.Aber auch dem Betrachter der Werke wird einiges abverlangt. Wenn die bildende Kunst eine Schule des Sehens ist, dann ist auch der Kunstliebhaber dazu angeleitet, die Zeichnungen, Studien und Gemälde genau in den Blick zu nehmen, ihre Besonderheiten zu erfassen und eigene Erkenntnisse zu gewinnen. Dem Landschaftsmaler kam dabei eine besondere Bedeutung zu. Die unmittelbare Erfahrung aller Phänomene unter freiem Himmel wurde zu einem entscheidenden Kriterium seiner Tätigkeit.Denn die Nähe zur Natur erzeugte auch das Bewusstsein für eine Distanz von der Natur.Die zuweilen formulierte Versicherung,das Werk sei nach der Natur entstanden, enthüllt diesen Doppelsinn, da die Präposition »nach« nicht nur als lokale, sondern auch als temporale Bestimmung verstanden werden kann und damit den Prozess der Stilisierung oder Abstraktion erfasst. Die Transformation vom wahrgenommenen Gegenstand zum wiedergegebenen Abbild erfolgt in einer für den Betrachter nachvollziehbaren Weise, da er die charakteristischen Eigenschaften der Dinge wie die äußere Form, Struktur oder Farbe von Felsen, Wasser, Bäumen oder Wolken als natürliche Gegebenheiten wiedererkennen, aber eben auch ihre Abweichungen im Bild als individuelle Empfindungen des Malers wahrnehmen und mit seinen eigenen Erfahrungen abgleichen kann. Dies trifft weder für geschichtliche Ereignisse im Historienbild zu, an denen der Betrachter ja nicht beteiligt ist, noch für die Porträtmalerei, wenn er die abgebildeten Personen nicht aus eigener Anschauung kennen kann. Die Natur ist im späten 18. und weit in das 19.Jahrhundert hinein ein zentrales Motiv der bildenden Kunst, aber ebenso der Musik und der Literatur. Aus einer Fülle von Schlüsseltexten seien hier nur exemplarisch genannt: Die Idyllen (1756) von 2 Werner Busch, Landschaftsmalerei. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd.3, Berlin: Reimer 1997.

33 Salomon Gessner, Heinrich von Ofterdingen (1802) von Novalis, Johann Wolfgang Goethes Wahlverwandtschaften (1809), Ludwig Tiecks Phantasus (1812–1816), Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) von Joseph von Eichendorff, Annette von Droste-Hülshoffs Der Knabe im Moor (1842), Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (1855), Adalbert Stifters Nachsommer (1857) oder auch Wilhelm Raabes Die Leute aus dem Walde (1863). Es wundert nicht, dass bei dieser Präsenz in den Künsten die Landschaft auch ein beliebtes Motiv bei den Sammlern von Druckgrafiken und Zeichnungen gewesen ist. Die Streifzüge durch die Natur führen zunächst in ein Labyrinth von Sinneswahrnehmungen, in denen Landschaftsraum und imaginierter Bildraum, Naturtöne und Kunstlied, Dichtung und Wirklichkeit auf das Engste miteinander verwoben sind. Naturerleben und Selbsterkenntnis können aber auf längere Sicht als Prozesse des gesellschaftlichen Wandels im 19.Jahrhundert gelesen werden. Der Stellenwert ästhetischer Erfahrungen von und in der Natur ist auch ein Gradmesser für die sozialen Konflikte aufgrund der veränderten Lebensbedingungen und der Entfremdung von der Natur im technischen Zeitalter. Die wahre Natur Kehren wir zurück zu Johann Georg Wille in Paris. Seine beiden Zeichnungen aus dem Bestand der Kunstsammlungen Chemnitz gehören zu den frühen hier vorgestellten Werken (Abb.3, Kat.1). Stilgeschichtlich kann man Willes Bildmotive dem sogenannten Hollandismus zuordnen, einer Kunstrichtung, die sich den Alltagsthemen des einfachen Lebens widmete. Ein Leitgedanke war dabei, die Wahrheit der Natur darzustellen; eine Natur, die dem Menschen Widerstand gegen ihre zerstörerische Kraft abverlangte.Sie bildete das Gegenmodell zu einem Naturverständnis der idealen Landschaft, die mit dem Bildungshorizont der Betrachter die bukolische Harmonie der Antike beschwor. Willes Landschaften schildern die Erfahrungen einer wenig prosaischen Gegenwart nördlich der Alpen. Gleichwohl ist der Hollandismus ebenso theoretisch fundiert wie die nobilitierten Landschaften eines Nicolas Poussin oder eines Claude Lorrain. Seine Wirkung auf den Betrachter wird Abb. 3 Johann Georg Wille Karrenschieber im Gebirge, 1760 Rötel, braun laviert, auf Karton kaschiert, schwarze, goldene und grüne Umrandung, 24,3×34,4 cm, Kunstsammlungen Chemnitz, Inv.-Nr. Z 875 SKat.1

34 Abb. 4 Ferdinand Kobell Am Felsenquell, 1778 schwarze Kreide, auf Karton kaschiert, mehrfache schwarze und grüne Umrandung, 25,6×35 cm, Kunstsammlungen Chemnitz, Inv.-Nr. Z 867 SKat.10 Abb. 5 Adrian Zingg Die Klosterruine in Oybin im Zittauer Gebirge, Blick über den Friedhof aus nordöstlicher Richtung, 1795 Feder in Schwarz, Pinsel in Braun, 47,4×63 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-­ Kabinett, Inv.-Nr. C 1995-1608

35 vom Künstler im Detail studiert und auf den gewünschten Effekt kalkuliert.Der wohl einflussreichste Kunsttheoretiker im Frankreich des 18.Jahrhunderts,Denis Diderot, forderte die perfekte Illusion jener anti-klassischen Bilderwelt: »Der Ausdruck wird in wunderbarer Weise durch kleines Beiwerk verstärkt, das auch der Harmonie zugute kommt. Wenn Sie mir eine armselige Hütte malen und vor ihren Eingang einen Baum setzen wollen, so wünsche ich, daß dieser Baum alt, morsch, geborsten, hinfällig sei; daß eine gewisse Übereinstimmung an Zufälligkeiten, an Unglück und Elend zwischen ihm und dem Unglücklichen bestehe, dem er an Feiertagen seinen Schatten spendet.«3 Auch – oder gerade – jenen Malern,die sich dem einfachen, scheinbar spontan aufs Blatt gebrachten Sujet verschrieben hatten,ging es nicht selten um eine intensive Auseinandersetzung mit den kunsttheoretischen Grundlagen ihrer Bildschöpfungen. Dies gilt in besonderem Maße für Johann Georg Wille. Er war zahlreichen bedeutenden Künstlern freundschaftlich verbunden und verfügte über eine breite Kenntnis älterer und zeitgenössischer Kunstliteratur.4 Paris bildete im 18.Jahrhundert das unbestrittene Zentrum des Kunstgeschehens, das seine Strahlkraft auf viele europäische Höfe und Akademien entfaltete. Deshalb konnte auch Wille seinen nicht geringen Einfluss auf den Kunstbetrieb in Deutschland geltend machen. Begabten Schülern vermittelte er Kontakte zu namhaften Künstlern in Italien, Frankreich und Österreich. So empfahl er die jungen Künstler Franz Edmund Weirotter und Friedrich Reclam an Winckelmann und Mengs in Rom, Georg Melchior Kraus nach Frankfurt und Weimar oder Sigmund Freudenberger in die Schweiz. Andere Zeichner aus seinem Kreis,wie Ferdinand Kobell und Carl WilhelmWeisbrod, kehrten mit guten Aussichten auf eine Anstellung als Künstler nach Deutschland zurück (Abb.4,Kat.10).Eine herausragende Rolle spielte Wille für den Kunstbetrieb in Sachsen.Seit 1756 pflegte er regelmäßigen Briefkontakt mit Christian Ludwig von Hagedorn, der 1763 zum Generaldirektor der sächsischen Kunstsammlungen und der Kunstakademie in Dresden berufen worden war. Der Kunstgelehrte aus Hamburg stand schon seit geraumer Zeit als Diplomat in sächsischen Diensten. Mit der Übernahme seines Amtes begann für die Kunstakademie eine neue Ära. Es gelang ihm nicht nur, den Porträtmaler Anton Graff zu bewegen, 1766 als Hofmaler und Mitglied der Akademie nach Dresden zu kommen, von Hagedorn erhob auch die Landschaftskunst in den Rang eines akademischen Ausbildungsfachs. Aus Paris erhielt er entsprechende Hinweise zur Organisation und Struktur des dortigen Zeichenunterrichts. Wille war es auch, der Hagedorn für die Neubesetzung von Stellen an der Akademie seine eigenen Schüler vorschlug.5 Als prominenteste Künstler folgten 1766 der Schweizer Maler Adrian Zingg und 1774 der aus Sachsen stammende Johann Eleazar Schenau dem Ruf an die Dresdener Akademie.Beide waren mit dem Landschaftskonzept des Hollandismus Willes vertraut. Zingg berichtete am 11. August 1766 seinem ehemaligen Lehrer nach Paris von seinen ersten Eindrücken aus Dresden: »Herr Dietrich [d.i. Christian Wilhelm Ernst Dietricy] war 8 Tage vor meiner Ankunft auf seinen Weinberg gereiset. Ich habe vor, dieser Tage zu ihm hinauß zu reitten, auf daß ich auch die Gegenden besehen kan, und ob etwas zum Zeichnen vorhanden seyn möchte; nahe um die Statt herum finde ich wenig Vortheilhaftes. Ich gedencke etwan in 14 Tagen gegen Königsstein zu Reisen und mir ein kleinen Vorrath auf den Winther zu machen. Vor das Auge sind sehr angenehme Gegenden und sehr fruchtbahr ist das gantze Lande, man kan sagen, daß gantze Land ist gutt und wunderschön, nur die Stätte werden den letzten Krieg am längsten empfinden.«6 Schon bald gehörte Zingg zu den bedeutendsten Künstlern im Dresden des ausgehenden 18.Jahrhunderts (Abb.5). Die Wertschätzung verdankte er seiner Neuinterpretation der Landschaftsvedute. Auf ausgedehnten Wanderungen durch 3 Denis Diderot, »Versuch über die Malerei (1765)«, in: Ästhetische Schriften, hrsg. v. Friedrich Bassenge. Bd.1, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1968, S.668. 4 Dazu gehörten u.a. die Schriften von Denis Diderot, Johann Heinrich Füssli, Christian Ludwig von Hagedorn, Antony Ashley-Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury, Johann Georg Sulzer oder auch von Johann Joachim Winckelmann, um nur eine kleine Auswahl zu nennen; zu Wille s. Hein-Th. Schulze Altcappenberg, »Le Voltaire de l’art« Johann Georg Wille (1715–1808) und seine Schule in Paris, Münster: LIT-Verlag 1987. 5 Altcappenberg 1987 (wie Anm.4), S.74–76. 6 Zit. n. ebd., S.360; zu Zingg s. auch Petra Kuhlmann-Hodick, Claudia Schnitzer, Bernhard von Waldkirch (Hrsg.), Adrian Zingg.Wegbereiter der Romantik, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-­ Kabinett, Dresden: Sandstein Verlag 2012.

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54 1 J OHANN GEORG W I L L E 1715–1808 Karrenschieber im Gebirge 1760 Rötel, braun laviert, auf Karton kaschiert, schwarze, goldene und grüne Umrandung 24,3 × 34,4 cm; 41,3 × 54,1 cm (Unterlage) sign., dat. u. M.: J. G. Wille. 1760 Inv.-Nr. Z 875 1949 erworben aus Privatbesitz (ehemals Sammlung Ludwig Blucke, Chemnitz)

55 →1 | 2 Als Johann Georg Wille in den frühen 1760er Jahren die beiden Zeichnungen mit schwer arbeitenden Menschen in karger Landschaft entwarf, hatte er den Höhepunkt seiner Laufbahn als Künstler, Kupferstecher, Kunsthändler und -philosoph erreicht.1 Er unterhielt als hoch angesehenes Mitglied der Pariser intellektuellen Gesellschaft beste Kontakte zu vielen führenden Künstlern, Schriftstellern und dem europäischen Adel. Diese Karriere war für den Sohn einer Müllersfamilie aus Königsberg durchaus ungewöhnlich. Aber sein Vater hatte ihm – die Talente des Sohnes früh erkennend – die Ausbildung zum Zeichner und Maler ermöglicht. Im Alter von 21 Jahren traf Wille nach seinen Lehrjahren 1736 in Paris ein. Hier machte er sich zunächst als Kupferstecher einen Namen. Später gründete er die Teutsche Zeichenschule als eine Privatschule für angehende Künstler, denen er im Vergleich mit den Lehrmethoden an der französischen Akademie größere Freiheiten der individuellen Entwicklung einräumte. Dieses Modell wurde zum Vorbild für andere europäischen Akademien, unter anderem auch, weil Wille großen Wert auf die Landschaft als eigenständiges Bildmotiv und wichtige Kunstgattung legte. Ein schnell wachsender Schülerkreis zeugt von der Bedeutung der Schule, die in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts viele Talente zu gefragten Künstlern ausbildete.2 Bei allen Freiheiten in der persönlichen Förderung bestand Wille doch auf den strengen Regeln einer in der zeitgenössischen Kunsttheorie und der Ideengeschichte der Aufklärung fest verwurzelten Lehre. Das systematische Ordnungsprinzip seines Kunstverständnisses zeigt sich auch in den beiden Zeichnungen aus dem Bestand der Chemnitzer Kunstsammlungen. Die Ähnlichkeit im Format und Motiv legt eine Zusammengehörigkeit beider Werke nahe. Wille hatte zur theoretischen Fundierung des von ihm vertretenen Hollandismus Bildtypologien der menschlichen Existenz entwickelt, die Schulze Altcappenberg in drei Motivgruppen gliedert: l’image du people, l’image de la nature und l’image du bourgeois.3 Leitidee war dabei die Verbindung der Bildgattungen Genre und Landschaft. Um 1760 gewann die Landschaft an Bedeutung und nahm gegenüber der genrehaften Darstellung nun größeren Raum ein. Die schwer arbeitende arme Bevölkerung ist der Kategorie l’image du people zuzuordnen. Ihr gehören unter anderem Gaukler, Angler und Bauern an. Es ging Wille also auch um eine kulturgeschichtliche Erfassung von Alltagsformen, die manchmal karikaturartig überzeichnet wurden. Die Steinbrüche am Montmartre geben die Situation vor den Toren der Stadt Paris wieder, wie sie sich dem Besucher des 18. und frühen 19.Jahrhunderts zeigte. In langen Stollen wurde Gips abgebaut und in Kalköfen gebrannt. Vorindustrielle Produktionsstätten, die Arbeit der Menschen auf dem Land und ihre Lebensbedingungen in einer wenig idyllischen Natur gehörten zu den bevorzugten Motiven der von holländischen Genredarstellungen inspirierten Bilderwelt Willes. RW 1 Hein-Th. Schulze Altcappenberg, »Le Voltaire de l’art«. Johann Georg Wille (1715–1808) und seine Schule in Paris, Münster: LIT-Verlag 1987. 2 Der Briefwechsel Willes dokumentiert den großen Kreis seiner Schüler und die Kontakte zu vielen weiteren Persönlichkeiten. Johann Georg Wille (1715–1808). Briefwechsel, hrsg. v. Elisabeth Decultot, Michel Espagne, Michael Werner, Tübingen: Niemeyer 1999. 3 Schulze Altcappenberg 1987 (wie Anm.1), S.97–231.

56 2 J OHANN GEORG W I L L E 1715–1808 Steinbrüche am Montmartre 1762 Feder in Schwarz, Pinsel in Braun, auf Karton kaschiert, schwarze, goldene und grüne Umrandung 24 × 33,3 cm; 41,2 × 54,1 cm (Unterlage) bez., sign. u. dat. o. l.: des. dans les Carrieres de Montmartre par J. G. Wille 1762. Inv.-Nr. Z 885 1949 erworben aus Privatbesitz (ehemals Sammlung Ludwig Blucke, Chemnitz)

80 13 ADR I AN Z I NGG, SCHU L E Waldbach undatiert Feder und Pinsel in Schwarz und Grau 33,5 × 25,7 cm beschr. u. l. mit Grafit von fremder Hand: Adrian Zingg. Inv.-Nr. Z 3689 1966 Schenkung Dr. Helmut Brückner, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz)

82 14 ADR I AN Z I NGG, SCHU L E Augustusburg undatiert Feder in Schwarz und Pinsel in Braun 39,8 × 30,7 cm bez. u. r. mit Feder in Schwarz: Zingg dl. Inv.-Nr. Z 3623 1966 Schenkung Dr. Helmut Brückner, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz)

84 15 ADR I AN Z I NGG, SCHU L E Flusstal mit Brücke und Burg undatiert Feder in Schwarz und Pinsel in Braun 20 × 31 cm unbez. Inv.-Nr. Z 3692 1966 Schenkung Dr. Helmut Brückner, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz)

85 1 Zu letzterer vgl. Petra Kuhlmann-Hodick, Claudia Schnitzer, Bernhard von Waldkirch (Hrsg.), Adrian Zingg.Wegbereiter der Romantik, Dresden: Sandstein Verlag 2012, S.194–196. 2 Maren Grönig, Marie Luise Sternath (Bearb.), Die deutschen und Schweizer Zeichnungen des späten 18.Jahrhunderts. Beschreibender Katalog der Handzeichnungen in der Graphischen Sammlung Albertina, Wien, Köln, Weimar: Scholl 1997, S.289, Nr.985, S.293, Nr.1009; Sabine Weisheit-Possél, »Adrian Zingg und seine Werkstatt. Die ›Marke Zingg‹ als Qualitätsmerkmal«, in: Wissenschaft, Sentiment und Geschäftssinn. Landschaft um 1800, hrsg. v. Roger Fayet, Regula Krähenbühl, Bernhard von Waldkirch, Zürich: Scheidegger & Spiess 2017, S.204–221, 236–239. →13 | 14 | 15 Die Darstellungen eines Waldbachs, eines Flusstals mit Brücke und Burg und der Augustusburg bei Chemnitz kamen unter Adrian Zinggs Namen in die Sammlung, sind aber als Produkte seiner Schule anzusehen. Das schmälert keinesfalls ihren künstlerischen Wert und ihre Eigenart, da Zingg bei der Ausbildung seiner Schüler sowie von seinen Mitarbeitern eine hohe zeichnerische Qualität verlangte. Zwar sind in den beiden weiträumigen Landschaften die Kompositionen des Bildraums mit der Blickführung durch Wege, Brücken und Pfade, die Staffage und das jeweilige Kolorit unverkennbare, aber eben auch erlernbare Bestandteile von Ansichten aus seiner Werkstatt. Um seinen Mitarbeiter diesen Stil zu vermitteln, ließ er Naturstudien zeichnen und kopieren und gab von 1802 bis 1811 radierte Zeichenschulen wie Erste Anfangsgründe der Landschafts-Zeichenkunst und -Malerey, Gründliche Zeichenschule für Landschafter oder Studienblätter für Landschaftszeichner heraus.1 Vor allem aber zeichneten Zingg und auch seine Schüler und Nachfolger wie Carl August Richter oder Johann Philipp Veith, die selbst wiederum zahlreiche Schüler ausbildeten, eigene Vorlagenblätter für den Unterricht. Die Nadelbäume in der lavierte Federzeichnung Waldbach gehen auf solche vorbildlichen Arbeiten zurück und vermittelt einen Eindruck davon, wie erst zahllose Übungen zu jenem zügigen, systematischen und dennoch lebendigen Lineament führten, für das Zinggs Zeichenmanier bis heute gerühmt wird. In dieser flächendeckenden Dichte lassen sich dann doch Unterschiede beobachten: So scheint die Wiedergabe der Zweige in der Waldbach-­ Zeichnung jenen des Baumes rechts im Flusstal mit Brücke und Burg stärker zu ähneln als den eher runden Konturen in der Landschaft mit der Augustusburg. Daraus Zuschreibungen an konkrete Zeichenschüler abzuleiten wäre jedoch voreilig; vielmehr sind diese Blätter jeweils als geringfügige Variationen, als Umsetzung eines Ideals innerhalb der Zingg-Schule zu verstehen. Zingg selbst stellte das Renaissanceschloss an der Zschopau im Erzgebirge mehrfach dar, unterschiedliche Ansichten befinden sich unter anderem in der Graphischen Sammlung Albertina Wien und dem Dresdener Kupferstich-Kabinett, darunter Pinselzeichnungen und lavierte Umrissradierungen.2 Der Zeichner der Chemnitzer Augustusburg-Pinselzeichnung in Sepiabraun nutzt zwar für die Wiedergabe von Laub, Büschen, Baumkronen und Wasser ein anderes Lineament, greift mit dem Blatt aber dennoch die Kompositionsweise und den Duktus der Zingg-Werkstatt auf. AFS

143 44 ERNST F ERD I NAND OEHME 1797–1855 Schloss im Mondschein um 1830 Aquarell über Bleistift 19,7 × 14,4 cm bez. verso o. r.: E. F. Oehme Inv.-Nr. Z 3635 1966 Schenkung Dr. Helmut Brückner, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) Literatur: Ernst Ferdinand Oehme 1797–1855. Ein Landschaftsmaler der Romantik. Ausstellung zum 200. Geburtstag des Künstlers, hrsg. v. Ulrich Bischoff, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister, Dresden: Neumeister 997, Nr.72, S.140; Hans Joachim Neidhardt, »Ernst Ferdinand Oehme – Werkverzeichnis der Gemälde und bildmäßigen Zeichnungen«, in: Ernst Ferdinand Oehme 1797–1855. Ein Landschaftsmaler der Romantik, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister, hrsg. v. Ulrich Bischoff, Dresden: Neumeister 1997, S.173–222, S.198, Nr.121. Die trotz schwachem Mondlicht deutlich sich abzeichnenden Bauten würde man vielleicht eher einer Burg als einem Schloss zuordnen wollen. Womöglich ist die Gestalt und landschaftliche Situation der alten Gemäuer überhaupt weitgehend der Phantasie des Künstlers entsprungen. Den Ausgangspunkt für die Aquarellstudie jedenfalls gab ersichtlich die Absicht einer poetisch-stimmungshaften Inszenierung des Motivs. Oehme hat die nächtliche Darstellung von Turm, Fachwerkhaus und ruinöser Ummauerung über einer flüchtigen Bleistiftskizze angelegt, auch das Farbkonzept der Aquarellierung steht ganz im Dienste einer möglichst eindringlichen Beschreibung der dichterischen Bildinspiration. In Kolorit und formaler Behandlung ist das Blatt ein Beleg für die hoch entwickelte Aquarellkunst des Malers und Zeichners Ernst Ferdinand Oehme. Die Neigung zur nostalgisch-stimmungshaften Ritter- und Burgenromantik war bereits in den Anfängen des Malers Oehme zu erkennen, wie eine Gewitterlandschaft mit Burg und Ritter, entstanden wohl 1816/1817, nahelegt.1 Die Ansichten sächsischer Burgen und Schlösser, die Oehme 1827/1828 teils im Auftrag seines wettinischen Mäzens Prinz Friedrich für eine Galerie vaterländischer Ansichten malte, illustrieren die Verbindung solcher Bildkonzepte mit dem wachsenden Interesse an der nationalen Geschichte und einer an Geltung gewinnenden patriotischen Rückbesinnung zu dieser Zeit. Sogar während seiner italienischen Reisejahre verfolgte Oehme nordische Bildphantasien mit heimatlich-sächsischen Motiven, und in der stimmungsbetont-erzählerischen Auffassung solcher Arbeiten begannen sich die Darstellungsintentionen spätromantischen Geistes immer stärker abzuzeichnen. Ludwig Richter beschrieb in seinen Lebenserinnerungen eine Zeichnung seines Freundes Oehme, die dieser zu Weihnachten 1824 in Rom ausgeführt hatte. Sie »zeigte ein altes Schloß mit hohen Renaissancegiebeln, das aus entlaubten alten Eichen hervorschaute und eine Reihe festlich erleuchteter Fenster zeigte. Vorn ein Wasser, darein der Mond sich spiegelte.«2 Solche Bildideen verfolgte der Künstler auch nach der Rückkehr in die Heimat weiter. GS 1 Öl auf Leinwand, 71×97 cm, Museum der bildenden Künste Leipzig, Inv.-Nr.1322. 2 Ludwig Richter, Lebenserinnerungen eines deutschen Malers, hrsg. v. Max Lehrs, Berlin: Propyläen-Verlag 1922, S.181.

180 62 GOT T FR I ED SEMPER 1803–1879 Janusbogen in Rom 1830/1831 Pinsel in Braun und Schwarz über Feder in Schwarz, schwarze Umrandung 25,5 × 18 cm unbez. Inv.-Nr. Z 861 1949 erworben aus Privatbesitz (ehemals Sammlung Ludwig Blucke, Chemnitz)

181 Der berühmte Architekt und Kunsttheoretiker Gottfried Semper, der in den Jahren 1827/1828 in Paris bei Franz Gau Architektur studiert hatte, unternahm von 1830 bis 1834 eine ausgedehnte Bildungsreise durch Italien und Griechenland. Finanzielle Unterstützung erhielt er dabei von seiner wohlhabenden Unternehmerfamilie aus Altona bei Hamburg. »Ich, um einen nothwendigen Teil meiner Ausbildung zu erwerben, muß nach Italien und mein Alter duldet keinen Aufschub«,1 schrieb Semper im Sommer 1830 an seinen Vater, wie ein Brief aus dem Semper-Nachlass in der ETH Zürich belegt. Sein besonderes Interesse auf dieser Reise galt den Bauwerken der Antike und der Renaissance. Dabei begnügte sich der angehende Architekt und spätere Akademieprofessor nicht nur mit Besichtigungen historischer Baudenkmäler. Gemeinsam mit anderen Architekten und Forschern, unter anderem Jules Goury und Eduard Metzger, nahm er an archäologischen Ausgrabungen teil und beschäftigte sich intensiv mit Untersuchungen zur Polychromie antiker Bauten. Vom 30. November 1830 bis zum 18. Februar 1831 weilte Semper in Rom. Hier konnte er bedeutendste Bauwerke der römischen Antike sowie der Renaissance studieren und vergleichen. Die mit Feder und Pinsel in Sepia und Tusche sorgfältig ausgeführte Zeichnung Janusbogen in Rom entstand vermutlich in jener Zeit. Der Betrachter blickt durch das antike Bauwerk auf den Eingangsbereich der Kirche San Giorgio in Velabro. Der Torbogen wird dabei zum Rahmen für den gewählten Bildausschnitt. Im Hintergrund sind weitere antike Ruinen zu erkennen. Trotz der Konzentration auf die Architektur, die präzise Zeichnung der Kirchenumrisse, die scheinbar mit Lineal unterzeichnet sind, wird die Stadtansicht durch Personen ergänzt und durch Vegetation in einer künstlerisch-malerischen Weise geschildert. Nach dem Aufenthalt in der Ewigen Stadt reiste Semper nach Neapel, wo er sich bei den Ausgrabungen von Pompeji intensiv mit den erhaltenen Wandmalereien beschäftigte. Bei diesen Untersuchungen gelangte er zu der Überzeugung, dass die antike Architektur allgemein farbig gefasst war. »Die Studienreise durch Italien, Sizilien und Griechenland war für Sempers Entwicklungen als Theoretiker und Künstler von entscheidender Bedeutung. Nach der Lehrzeit bei Gau legte sie den fundamentalen Grundstock für sein gesamtes späteres Schaffen«.2 Die Begeisterung für Rom hielt zeitlebens. Noch im (hohen) Alter reiste der inzwischen äußerst erfolgreiche Architekt, der große öffentliche Bauaufträge in Dresden, Wien und Zürich umgesetzt hatte, in die Ewige Stadt. An jenem Ort der ihn geprägt und inspiriert hatte, verstarb er am 15. Mai 1879. Beigesetzt wurde er auf dem berühmten protestantischen Friedhof an der Cestius Pyramide, wo viele Persönlichkeiten der deutschen Künstlerschaft ihre letzte Ruhe fanden. CMM 1 Zit. n. Gisela Moeller, »›Grau teurer Freund ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum‹. Sempers Studienreise durch Italien, Sizilien und Griechenland. 1830–1834«, in: Gottfried Semper. 1803–1879. Architektur und Wissenschaft, hrsg. v. Winfried Nerdinger, Werner Oechslin, Zürich: gta-Verlag 2003, S.105–108, S.105. 2 Ebd., S.108.

182 63 ADR I AN L UDW I G R I CHT ER 1803–1884 In der Nassau bei Meißen 1835 Feder in Braun, aquarelliert, kaschiert auf Karton 16,2 × 24,7 cm; 21,5 × 29,4 cm (Unterlage) bez., dat. u. r. mit Feder: In der Nassau bei Meißen | Die Sage von den Riesen oder Teufel= | steinen ist hierauf bezüglich. | L. Richter. | 3. Juni 1835. Inv.-Nr. Z 187 1926 erworben auf einer Auktion bei Hugo Helbing, Frankfurt am Main Literatur: Ölgemälde, Handzeichnungen und Aquarelle moderner Meister aus einer süddeutschen Privatsammlung [Versteigerung bei Hugo Helbing, Frankfurt a.M., 16.11.1926], hrsg. v. Hugo Helbing, München u.a.: Helbing 1926, Los-Nr.190; Deutsche Zeichnungen von 1750 bis zur Gegenwart. Aus den Beständen des Graphik-Kabinetts der Städtischen Kunstsammlung Karl-Marx-Stadt, 5. Bilderheft der Städtischen Museen Karl-Marx-Stadt, hrsg. v. Rat der Stadt Karl-Marx-Stadt, Abteilung für Kultur, Leitung der Städtischen Museen KarlMarx-Stadt, bearb. im Rahmen des Nationalen Aufbauwerkes von einem Kollektiv der Städtischen Kunstsammlung, Karl-Marx-Stadt: Rat der Stadt Karl-Marx-Stadt 1955, Nr.10.

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