Leseprobe

55 →1 | 2 Als Johann Georg Wille in den frühen 1760er Jahren die beiden Zeichnungen mit schwer arbeitenden Menschen in karger Landschaft entwarf, hatte er den Höhepunkt seiner Laufbahn als Künstler, Kupferstecher, Kunsthändler und -philosoph erreicht.1 Er unterhielt als hoch angesehenes Mitglied der Pariser intellektuellen Gesellschaft beste Kontakte zu vielen führenden Künstlern, Schriftstellern und dem europäischen Adel. Diese Karriere war für den Sohn einer Müllersfamilie aus Königsberg durchaus ungewöhnlich. Aber sein Vater hatte ihm – die Talente des Sohnes früh erkennend – die Ausbildung zum Zeichner und Maler ermöglicht. Im Alter von 21 Jahren traf Wille nach seinen Lehrjahren 1736 in Paris ein. Hier machte er sich zunächst als Kupferstecher einen Namen. Später gründete er die Teutsche Zeichenschule als eine Privatschule für angehende Künstler, denen er im Vergleich mit den Lehrmethoden an der französischen Akademie größere Freiheiten der individuellen Entwicklung einräumte. Dieses Modell wurde zum Vorbild für andere europäischen Akademien, unter anderem auch, weil Wille großen Wert auf die Landschaft als eigenständiges Bildmotiv und wichtige Kunstgattung legte. Ein schnell wachsender Schülerkreis zeugt von der Bedeutung der Schule, die in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts viele Talente zu gefragten Künstlern ausbildete.2 Bei allen Freiheiten in der persönlichen Förderung bestand Wille doch auf den strengen Regeln einer in der zeitgenössischen Kunsttheorie und der Ideengeschichte der Aufklärung fest verwurzelten Lehre. Das systematische Ordnungsprinzip seines Kunstverständnisses zeigt sich auch in den beiden Zeichnungen aus dem Bestand der Chemnitzer Kunstsammlungen. Die Ähnlichkeit im Format und Motiv legt eine Zusammengehörigkeit beider Werke nahe. Wille hatte zur theoretischen Fundierung des von ihm vertretenen Hollandismus Bildtypologien der menschlichen Existenz entwickelt, die Schulze Altcappenberg in drei Motivgruppen gliedert: l’image du people, l’image de la nature und l’image du bourgeois.3 Leitidee war dabei die Verbindung der Bildgattungen Genre und Landschaft. Um 1760 gewann die Landschaft an Bedeutung und nahm gegenüber der genrehaften Darstellung nun größeren Raum ein. Die schwer arbeitende arme Bevölkerung ist der Kategorie l’image du people zuzuordnen. Ihr gehören unter anderem Gaukler, Angler und Bauern an. Es ging Wille also auch um eine kulturgeschichtliche Erfassung von Alltagsformen, die manchmal karikaturartig überzeichnet wurden. Die Steinbrüche am Montmartre geben die Situation vor den Toren der Stadt Paris wieder, wie sie sich dem Besucher des 18. und frühen 19.Jahrhunderts zeigte. In langen Stollen wurde Gips abgebaut und in Kalköfen gebrannt. Vorindustrielle Produktionsstätten, die Arbeit der Menschen auf dem Land und ihre Lebensbedingungen in einer wenig idyllischen Natur gehörten zu den bevorzugten Motiven der von holländischen Genredarstellungen inspirierten Bilderwelt Willes. RW 1 Hein-Th. Schulze Altcappenberg, »Le Voltaire de l’art«. Johann Georg Wille (1715–1808) und seine Schule in Paris, Münster: LIT-Verlag 1987. 2 Der Briefwechsel Willes dokumentiert den großen Kreis seiner Schüler und die Kontakte zu vielen weiteren Persönlichkeiten. Johann Georg Wille (1715–1808). Briefwechsel, hrsg. v. Elisabeth Decultot, Michel Espagne, Michael Werner, Tübingen: Niemeyer 1999. 3 Schulze Altcappenberg 1987 (wie Anm.1), S.97–231.

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