Leseprobe

183 Ludwig Richter war ein herausragender Zeichner und Aquarellist, doch lässt sich gerade dieser Teil seines Schaffens noch immer nicht ausreichend beurteilen und würdigen, weil ein Œuvreverzeichnis der Zeichnungen und Aquarelle Richters bis heute fehlt. Die aquarellierte Federzeichnung mit einem Landschaftsmotiv aus der Umgebung von Meißen, vom Künstler eigenhändig mit dem Entstehungsdatum »3. Juni 1835« und der Ortsbezeichnung »In der Nassau bei Meißen« versehen, ist eine Arbeit des damals noch um Anerkennung ringenden 31-jährigen Malers. Meißen war 1828 für einige Jahre zum Wohn- und Arbeitsort Richters geworden, weil er im Anschluss an seinen Italienaufenthalt von 1823 bis 1826 in der Vaterstadt Dresden keine selbstständige Existenz hatte finden können und deshalb eine Lehrerstelle an der Zeichenschule der Porzellanmanufaktur in der Domstadt annahm. Die Nassau (von: Nass-Au) war ein altes Feuchtgebiet bei Meißen, das einst von der Ur-Elbe durchflossen gewesen war und später durch kleine Wasserläufe entwässert wurde. Den Felsen im Vordergrund brachte Richter in der Bildunterschrift vermutlich mit jenem »Riesenfelsen am Saume von Nassau« zusammen, der im »Sagenschatz des Königreiches Sachsen« als Ort eines »grimmigen Kampfes« zweier Riesen erwähnt wurde, der für beide tödlich endete.1 Die auf felsiger Anhöhe miniaturhaft angedeutete pastorale Szene mit dem flötenspielenden Hirten und seiner Herde, die in friedlicher Landschaft ruhen, konterkariert etwas den eher dunklen Sagenbezug. Das weiträumige Landschaftspanorama, bei dem eine markant herausgehobene mittlere Raumebene mit größerer Schärfe und Bilddichte im Zentrum der Betrachtung steht, ist aus fein schwingenden Linien der Federzeichnung heraus geformt und gewinnt seinen hohen farblichen Reiz durch die Tonabstufungen einer zarten Aquarellierung. Das Profil der Landschaft erinnert, wenn auch in kleinerem Maßstab, an die Felsen über der Elbe am Schreckenstein bei Aussig, die Richter ein knappes Jahr zuvor zeichnerisch umsetzte.2 Die Böhmen-Reise vom September 1834 hatte ihm nach langer Befangenheit in italienischen Vorbildern die Augen für die Schönheit heimischer Landschaft in neuer Weise geöffnet. An den Freund Wilhelm von Kügelgen schrieb er: »Ich finde nun in der mich umgebenden Natur so viel Stoff, daß ich beinahe das Gefühl eines reichen Mannes habe, und mich der Schätze freue.«3 Auch die landschaftliche Umgebung von Meißen bot dafür Anregungen in reichem Maße. In den Lebenserinnerungen äußerte Richter später zu dieser wichtigen Periode künstlerischer Neuorientierung: »Jetzt wurde mir alles, was mich umgab, auch das Geringste, die alltäglichste Gegenwart interessanter, weil Gegenstand malerischer Beobachtung.«4 GS 1 Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen, gesammelt und hrsg. v. Johann Georg Theodor Grässe, Dresden: Verlag von G. Schönfeld’s Buchhandlung 1855, S.61 f.: Der Riesenstein in der Nassau (nach: M. Grünewald, Meißner Chronik, Hayn 1829, Bd.1, S.34). 2 Vgl. etwa Richters Zeichnung, Die Burgruine Schreckenstein über dem Tal der Elbe, Bleistift, ehemals Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. C 1908– 1114, seit 1945 vermisst. 3 Ludwig Richter wohl im April/Mai 1835 an Wilhelm von Kügelgen, zit. n. Ludwig Richter, Lebenserinnerungen eines deutschen Malers. Selbstbiographie nebst Tagebuchniederschriften und Briefen von Ludwig Richter, hrsg. und ergänzt v. Heinrich Richter. Mit einem Bildnis Ludwig Richters und einer Einleitung von Ferdinand Avenarius, Leipzig: Hesse & Becker 1909, S.723. 4 Ludwig Richter, Lebenserinnerungen eines deutschen Malers, hrsg. v. Max Lehrs, Berlin: Propyläen-Verlag 1922, S.308.

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