Leseprobe

12 Vor 100 Jahren, am 1.November 1923, wurde im städtischen Museum die Grafiksammlung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Gründung des Graphikkabinetts, 1997 umbenannt in Grafische Sammlung, ist im Wesentlichen dem enormen Engagement des damaligen Museumsdirektors Friedrich Schreiber-Weigand (1879–1953) zu verdanken.Von großer Wichtigkeit war ihm,die fehlende öffentliche Präsenz der Kunst auf Papier zu verändern und die Bestände der Kunsthütte und der städtischen Sammlung zusammenzuführen. Die Anfänge Den Grundstock einer öffentlichen Kunstsammlung in Chemnitz legte der Kunstverein Kunsthütte. Dieser wurde 1860 in der Stadt von »Chemnitzer Künstlern und Kunstfreunden« mit dem Vorsatz gegründet, »unter seinen Mitgliedern eine Würdigung der bildenden Künste zu erwecken und die Interessen derselben zu fördern und zu wahren«.1 Die Aktivitäten des neu gegründeten Vereins – Ausstellungen, Vorträge, Kunstverlosungen – entsprachen durchaus denen eines klassischen bürgerlichen Kunstvereins,wie sie sich seit dem beginnenden 19.Jahrhundert in vielen anderen größeren Städten Deutschlands bildeten. In den folgenden Jahren begann die Kunsthütte, eine eigene Sammlung aufzubauen, wenn auch die Schenkungen und Ankäufe zunächst eher zufällig und ohne Konzept erfolgten. Bereits 1862 stifteten Künstler, die zugleich Mitglieder der Kunsthütte waren, erste Bilder zur Ausschmückung der Kunsthütte. 1866 wurde das erste Ölgemälde, Bajazzo von Christian Ferdinand Gonne,dem Verein übereignet,ebenfalls von einemMitglied.2 An die Schenkung war die Bedingung geknüpft, dass die Kunsthütte in den nächsten vier Jahren jährlich 150 Mark für Ankäufe von Kunstwerken für die eigene Sammlung aufzubringen habe. Im Verzeichnis der zur Sammlung der Kunsthütte in Chemnitz gehörigen Werke3 findet sich der erste Eintrag für Grafik am 8.Juli 1868. Es handelt sich um die beiden Zyklen Der Fürsten Jagd-Lust (1729) und Das Carusel (1761) des Augsburger Grafikers Johann Elias Ridinger mit insgesamt 93 Kupferstichen, ein Geschenk des Geheimen Hofrats O. Kohl aus Chemnitz. Insgesamt ging der Aufbau einer grafischen Sammlung zwar sporadisch, aber mit stetigem Zuwachs voran.Emil Walther berichtet in der Chronik zum 50-jährigen Bestehen der Kunsthütte,dass im Jahr 1900 die eigene Sammlung bereits sieben Originalzeichnungen sowie 481 Werke und Blätter der vervielfältigenden Künste umfasst habe.4 Als sammlungswürdig wurde später jedoch mit knapp 190 Blättern nur ein Teil davon in die Inventare der Zeichnungen und Druckgrafiken aufgenommen. Als erste Zeichnung ist 1875 der Ankauf des Aquarells Münster in Straßburg von Friedrich Eibner vermerkt. Im Dezember 1883 wurde mit sechs Handzeichnungen und 92 Druckgrafiken aus der Vogel’schen Sammlung ein größeres Konvolut erworben; die Grafikkollektion umfasst Radierungen,Kupferstiche,Holzschnitte beziehungsweise Reproduktionsgrafik hauptsächlich von Meistern des 16. bis 18.Jahrhunderts. Als Mitglied des Sächsischen Kunstvereins, der Verbindung historischer Kunst, des Württembergischen Kunstvereins und vieler anderer Kunstvereine bezog die Kunsthütte außerdem Prämienblätter und nahm an den jeweiligen Kunstverlosungen teil. Ansonsten überwogen Erwerbungen und Schenkungen von Werken regionaler Künstler. 1881 konnte in der sogenannten Lechla’schen Villa in der Annaberger Straße, die seit 1868 der Kunsthütte als Domizil diente, durch Räumung eines Kontors ein Kabinett geschaffen werden, das ausschließlich für die Präsentation grafischer Kunst bestimmt war.5 Damit war ein wichtiger Schritt zur Zugänglichkeit der zumeist kleinformatigen Arbeiten auf Papier unter Berücksichtigung des eigenständigen Charakters des Mediums getan. 1 Statuten der Kunsthütte in Chemnitz, Chemnitz: Druck von J. W. Seidel 1860. Zur Geschichte der Kunsthütte s. Emil Walther, Geschichte der Kunsthütte in Chemnitz 1860– 1910 in den ersten fünfzig Jahren ihres Bestehens. Festschrift zur goldenen Jubelfeier des Vereins am 24.Januar 1910, Chemnitz: J.C.F. Pickelhan & Sohn 1910; Brigitta Milde, »Die Vorgeschichte der Kunstsammlungen Chemnitz«, in: Im Morgenlicht der Republik. 100 Jahre Kunstsammlungen Chemnitz, hrsg. v. Frédéric Bußmann, Brigitta Milde, Leipzig: E.A. Seemann Verlag 2020, S.18–28. 2 Geschenkt von Victor Langheineken. Walther 1910 (wie Anm.1), S.13. 3 Verzeichnis der zur Sammlung der Kunsthütte in Chemnitz gehörigen Werke, in: Kunstsammlungen Chemnitz, Grafische Sammlung, Archiv, Nr.4. Es handelt sich wohl um das erste angelegte Verzeichnis der Kunstwerke der Kunsthütte, ein von 1868 bis 1913 geführtes Zugangsbuch für Kunst, in dem die Gattungen noch nicht getrennt wurden. Später (vermutlich erst 1912/1913, vgl. Anm.8) wurden die Werke in separate Inventare für Gemälde, Plastik, Aquarelle und Zeichnungen sowie Druckgrafik übertragen. Allerdings wurden nicht alle Werke in die Inventare übernommen. Dies gilt z.B. für Serien von Fotografien berühmter Bauwerke bzw. Reproduktionen von Kunstwerken, nicht sammlungswürdige Blätter oder andere, aus verschiedenen, heute nicht immer nachvollziehbaren Gründen aussortierte Werke. 4 Walther 1910 (wie Anm.1), S.48. 5 Ebd., S.29 f.

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