25 I Mit sandgrauen Sätzen steige ich in die nassgraue Welt, ich laufe mit dem Gesicht am Boden, ich laufe unter der Hochnebeldecke, meine Füße versinken im Dunst und verschwimmen. Ich laufe durch Milchgrau und Buttergrau, Fischgrau und Rauchgrau, ich laufe im mattgrauen Tageslicht, ich bewege mich wie ein grauer Haufen, die leuchtende Schneedecke unter mir. »Wo liegt der mittlere Grauwert der Grauwelt?«, frage ich mich, wenn die Hochnebeldecke alles im Zaum hält, ich frage »Was machen die grauen Sätze mit mir?«, wenn ein grauer Vogel vom Zaun fällt. Die Luft bildet Fäden und Knoten und Schlaufen. »Was wäre die Kunst ohne Blei?«, frage ich, wenn ein Baum sich grau in den Weg stellt, ich frage: »Was bleibt von der Kunst, wenn es schneit?«, vor mir eine Grauwalze, eine Schwarzwalze, eine Faulmilchweißwalze, der ich ausweichen, der ich folgen, in die ich mich werfen kann. II Fischgrau und Rauchgrau halten einander die Waage, Schneegrau und Hochnebelgrau halten einander die Waage, Baumgrau und Eisengrau werden einander die Waage halten, denn »Was wäre die Kunst ohne Holz, ohne Lack, ohne Leim?«, frage ich mich, »und was ohne Messer?«, während ich laufe und aus dem Grau heraus nach und nach eine Figur auftaucht. Eine Figur im grauen Kittel oder im weißen Kittel, eine Figur mit grauem oder mit schwarzem Haar, das Gesicht eines Mannes mit einem Namen, Karl Butz, eines Mannes mit einem Namen und einem Beruf. Der Oberpfleger Karl Butz mit seinen Sternaugen und seiner zerkratzten Stirn. Ein Mann an einem klar umrissenen Ort, der Oberpfleger Karl Butz im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen im Kanton Thurgau, vom Patienten Ernst Ludwig Kirchner porträtiert irgendwann zwischen Mitte September 1917 und Anfang Juli des darauffolgenden Jahres. III Den Oberpfleger Karl Butz habe ich nie gesehen, ich kenne ihn nur von diesem Holzschnitt, und darum vielleicht erinnert er mich an einen seitlich angestoßenen, kleinen Rainer Maria Rilke mit seinem Schnurrbart und seinen hellen Wangenknochen, mit seinem geschwungenen Haaransatz, seinem riesigen Ohr und diesem halbverloren gesenkten Blick, als habe Ernst Ludwig Kirchner ihn schräg von der Seite in einem Moment eingefangen, als der Oberpfleger Karl Butz den langen Sanatoriumsflur entlangläuft, vom einen Patientenzimmer zum anderen, von der Hausapotheke zum Waschraum, um mit einem Mal innezuhalten, als er vor sich auf dem Linoleumboden eine hellgraue Milchlache bemerkt. Ein aufgequollenes Stück Papier vielleicht, oder ein Leimfleck. Der Oberpfleger Karl Butz neigt den Kopf leicht zur Seite, die Lache einer nach einem Geheimrezept angerührten Grundierung vielleicht, eine Reismehlgrundierung noch ohne Pigment, und zugleich möglicherweise schon das ganze Bild. Georg Baselitz Bäume / Mappe mit 36 Radierungen / 1974/75 (Kat. 47, S. 115–119) A. R. Penck O. T. / Mappe mit zehn Kaltnadelradierungen / 1978/79 (Kat. 42, S. 98–105) Ernst Ludwig Kirchner Kopf Karl Butz. – Oberpfleger Karl Butz 1917/18 / Holzschnitt √ Detail (Kat. 4, S. 17) MARCEL BEYER IM RAUSCH DER FLÄCHE
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