26 IV Möglich genauso, der Oberpfleger Karl Butz erinnert mich an einen späten Robert Walser mit seiner zerkauten Stirn, wie er am Weihnachtstag des Jahres 1956 in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau nach seinem Hut sucht. Der formvollendet graue, formvollendet zerknautschte Robert Walser hat sich in den Kopf gesetzt, am Nachmittag einen Weihnachtsspaziergang zu unternehmen, ohne Begleitung, da eine Begleitung ihn mit ihrem Gerede nur ablenken würde von der formvollendet schriftlosen Schneewelt mit ihrem schwindenden Licht, ihrem mit jeder Minute sich wandelnden Grauwert. Er wird nicht zurückgekehrt sein zur gewohnten Zeit, nicht zum Nachmittagskaffee, nicht zum Nachtessen, sodass sich unter den Pflegern Unruhe verbreitet, bis jemand in die Stiefel steigt, sich den Mantel überwirft und sich auf den Weg macht, um nach Robert Walser zu suchen. Ein Pfleger vielleicht wie dieser mir unbekannte, von Ernst Ludwig Kirchner porträtierte Karl Butz. V Wie aber sollte der veronalsüchtige, der morphiumsüchtige Ernst Ludwig Kirchner, wie sollte der Absinthtrinker Ernst Ludwig Kirchner mitten im Ersten Weltkrieg den Abstinenzler Robert Walser des Jahres 1956 in Holz geschnitten haben, wie hätte der Künstler im Oberpfleger Karl Butz einen Doppelgänger des Schriftstellers als alter Mann erkennen, wie hätte der Kreuzlinger Patient den Herisauer Patienten in annähernd vierzig Jahren vor Augen haben können, frage ich mich, während ich durch die schneegrauen Sätze stapfe, während ich Schneelöcher stopfe. Schieferfarbene Abreibungen um mich herum, und ich weiß nicht einmal, ob sie von mir stammen oder schon vor mir da waren, während die Figur sich wandelt im Schattengrau, im Gesichtsgrau, im Räuchergrau. VI Ich stopfe und stopfe, ich frage nach Teer und nach Reis und nach Lumpen, ich sehe die Farbwalze vor mir, ich warte auf Blei. Ich frage mich, wie hätte ein dem Kreuzlinger Oberpfleger Karl Butz zum Verwechseln ähnlich sehender Pfleger der Heil- und Pflegeanstalt Herisau im Kanton Appenzell Ausserrhoden im Dezember des Jahres 1956 aufbrechen können, um nach einem verschwundenen Patienten zu suchen, der womöglich in Richtung Nordosten aufgebrochen ist, der sich auf den Weg nach Kreuzlingen im Kanton Thurgau gemacht hat, um die Strecke von vierunddreißig Kilometern im tiefen Winter zu Fuß zurückzulegen, und wie sollte sich umgekehrt der Oberpfleger Karl Butz Ende 1917 vom Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen im Kanton Thurgau auf den Weg gemacht haben, um die vierunddreißig Kilometer bis zur Heil- und Pflegeanstalt Herisau in Richtung Südosten zu laufen, seinen Doppelgänger Robert Walser vor Augen, sodass die beiden Pfleger, aus verschiedenen Zeiten kommend, annähernd vierzig Jahre durchmessend, auf ihrem Weg einander irgendwann begegnen würden, womöglich gerade an jener Stelle inmitten der weiten Schneewelt, an der am 25. Dezember 1956 Robert Walser liegt, samt seinem in den Schnee gerollten Hut. VII Ich werde noch eine Stunde schlafen und hoffe auf einen grauen Traum. Denn ich weiß, morgens ist die Sprache da, nachmittags sind es die Bilder. »Hier und da rollt ein Hut in den Schnee«, murmele ich, im Hochnebel laufend, »hier und da spüre ich die Glut in den Zehen«, höre ich jemanden aus der Grauwelt sprechen, »hier und da bricht etwas weg«, man trinkt ein Glas Absinth, man zerkratzt sich die Stirn, das Ohr wächst noch in diesem Alter, die Grausätze geben mir Halt, da ich mich ins schwindende Licht bewege,
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