Leseprobe

27 vor mir eine Bleiwalze, eine Salzwalze, eine Gletschermilchwalze. Ich lasse das Licht schwinden, ich rufe das Licht zurück, ich muss mir die Schneeschuhe binden, ich muss den mittleren Grauwert finden, ehe das Schwarz sich vom Weiß trennt und wieder ein Bild entsteht. So verwandelt sich die Gestalt, und das graue Gesicht des toten Dichters im Schnee wird überschneit, bevor es sich, ins Schneeweiß gewendet, am anderen Ende der Welt an einem anderen Menschen zeigt. VIII Sein Gesicht wirkt wie eine annähernd ebene Fläche, in der nur Augen und Mund Vertiefungen andeuten. Die kaum sichtbaren Nasenlöcher ließen sich, sofern man sie überhaupt bemerkt, leicht als Belichtungsfehler, als zufällig auf dem fotografischen Negativ haftende Materie auffassen, sofern man es denn mit einer Fotografie zu tun hätte. Doch dieser Mann, der sich im vollen Fischlokal, vom Eingang her kommend, nach und nach wie magisch von uns angezogen auf unseren Tisch zubewegt, ist keine optische Täuschung, die sich in einem unruhigen Traum vom Papier gelöst hat, um zwischen den im Vorraum zu beiden Seiten aufgereihten offenen Feuern zu wandeln, über denen der Fisch gegrillt wird, ist auch keine Filmfigur, die einen Schritt hinaus in die wirkliche Welt gemacht hätte, um dort, also hier, einen Abend lang unter Menschen zu wandeln. IX Der weiße Mann, der uns, weiße Frauen und Männer, die für einige Tage in der Stadt zu Gast sind, vermutlich gleich beim Eintreten in den Blick genommen hat, noch ehe wir auf ihn aufmerksam wurden, wendet sich auf seinem Weg mal dieser, mal jener eng zusammensitzenden Tischgesellschaft zu, bringt die Menschen zum Lachen, ohne dass ich mich nun, ein Vierteljahrhundert später, erinnern könnte, ob er dies tut, indem er mit ihnen spricht, oder ob er sich ihnen stumm nähert, ob seine Verkleidung (er trägt eine blonde Perücke, ein Blümchenkleid und eine Handtasche), seine Gesten, sein stierer Blick oder am Ende einfach der Umstand, dass er sein ausdrucksloses Gesicht kalkweiß geschminkt hat, für Belustigung sorgen, zumal allen im Raum vor Augen steht, dass wir, die Weißen, ein Unbehagen empfinden werden, wie es einen Einheimischen befallen würde, wenn ein Nordeuropäer in dessen Gegenwart darauf käme, sich das Gesicht mit Schuhcreme schwarz zu färben. Die Farbe Grau ist in allen Schattierungen ein Phänomen des Eingangsbereichs, nämlich in Form der Rußschicht auf den früher einmal weißen Wänden, des Rauchs über den Feuern, der Asche auf der Glut, der Holzkohle, die mit Augenmaß nachgelegt wird, damit der Fisch gleichmäßig Hitze bekommt. Hier, im Gastraum, existiert kein Grau, hier gibt es nur Schwarz und Weiß. X Ich habe Schuhcreme im Auge. Die Bilder sind da, doch ich brauche die Sprache. Ich reibe mir die Augen im Rausch. Ich brauche die Schneehand im Teerbad, ich brauche das Schwarz an der Atelierwand, ich brauche ein Weiß, das herumgeht, ich brauche ein Wort, das auf dem Papier steht, wenn ich herausfinden will, was die grauen Sätze mit mir machen. Ich brauche den Lack, ich brauche die Tünche, ich brauche das Schneegrau im Kanton Thurgau, ich brauche das weiße Blatt und das schwachgraue Licht in einem Atelierraum in München. Ich brauche ein Kniestück, einen Mann mit der Frisur meiner Urgroßmutter und einem großen weißen Ohr, brauche ihn für die gesamte Belichtungszeit, brauche ihn lange. Doch zuvor, es gibt kein Zurück, steige ich noch eine Weile durch die erinnerungsgrauen Sätze und zerkaue dabei eine Schlange. Carsten Nicolai Hand / Mappe mit zwölf Holzdrucken / 1990 (Kat. 24, S. 62/ 63)

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