43 Die deutlichste Spur, die leicht zu lesen ist, besteht aus Strichen und Linien einer Zeichnung. Sie ist der Formensprache der Grafik sehr verwandt und gibt nicht nur einen Hinweis auf den Urheber, sondern kann in sein ganzes Werk einführen. Deshalb gehe ich von einer kleinen bescheidenen Filzstiftzeichnung aus, die Georg Baselitz auf das Vorsatzblatt eines Katalogs gezeichnet hat (Abb. 1).5 Kurze Striche und Zickzacklinien, die völlig frei gesetzt erscheinen, umschließen in ihrer Mitte eine männliche Figur, von der man nicht weiß, ob sie liegt oder, da auf dem Kopf stehend, in die Tiefe stürzt. So beiläufig die Zeichnung erscheint, so bedeutungsvoll ist sie, auch wenn man die Bedeutung noch nicht kennt. Die Zeichnung ist das Stenogramm, die Abbreviatur eines Ereignisses aus dem Zweiten Weltkrieg. Baselitz hat das Motiv einem Bild von Arkadi A. Plastow (Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau) entnommen, das einen toten Hirten in der Heidelandschaft darstellt, der von einem Tiefflieger erschossen wurde. Er hat das Hauptmotiv des im Stil des sowjetischen sozialistischen Realismus der 1940er-Jahre gemalten Bildes isoliert und in eine flächige Strichzeichnung umgesetzt, die von allem Beiwerk, Landschaft und Tieren, bereinigt ist. Auch hat er die Figur aus der stilistischen Zeitgebundenheit des sowjetischen sozialistischen Realismus der 1940er-Jahre gelöst und zu einem zeitlosen Motiv gemacht, einem unschuldigen Opfer der Gewalt. Die Zeichnung des Hirten variiert Baselitz in der Radierfolge von acht Drucken Ein Faschist flog vorüber, 1998 (Abb. 2).6 Das Thema erweitert Abb. 2 Georg Baselitz Ein Faschist flog vorüber I 1998 / Strichätzung, Kaltnadel, Aquatinta / 653×495 mm Sammlung Günther und Annemarie Gercken
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1