Leseprobe

44 sich durch die Assoziation an den kleinen, von Christian Friedrich nach einer Zeichnung seines Bruders Caspar David Friedrich gefertigten Holzschnitt Auf einem Grabe schlafender Knabe (Abb. 3), dessen Figur Baselitz stark vergrößerte und in eines seiner riesigen Berliner Reichstagsbilder aufnahm. Die Zeichnung entpuppt sich als ein bedeutungsvolles Strichgebilde, das unsere Interpretation herausfordert. Die Gedanken an ihre Herkunft weisen auf zwei Zeitpunkte deutscher Geschichte, die mehr als ein Jahrhundert auseinanderliegen: auf einen Mord im Zweiten Weltkrieg und den Knaben, der das Leben noch vor sich hat, schlafend auf einem Grab, aus der Zeit der Freiheitskriege Anfang des 19. Jahrhunderts. Indem das Kunstwerk bedeutsam ist, hat es nach HansGeorg Gadamer seine hermeneutische Identität.7 Vielleicht ist es diese Bedeutsamkeit, die die Werke, obwohl sie aus verschiedenen Zeiten stammen und sich stilistisch unterscheiden, zur Zusammengehörigkeit dieser Sammlung vereinigt. Auch die handgeschöpften Papierarbeiten von Jenny Holzer, die man für abstrakte Schwarz-Weiß-­ Formen halten könnte, tragen eine inhaltliche Botschaft, indem sie das Foltern durch »Waterboarding« anprangern (Kat. 30, S. 71–73). Und das Chaos in der Oberfläche einer Hartfaserplatte wird von Büttner/Kiecol in die Trümmer bombardierter Städte transformiert (Kat. 19, S. 51–56). An den monumentalen Linolschnitten von 1977/78 kann man Baselitz’ Zeichenspur im großen Format verfolgen (Kat. 27–29, S. 66–69). Mit ihnen erfindet Baselitz eine neue Bildgattung, die zwischen Zeichnung, Druckgrafik und Gemälde angesiedelt ist. Er verleiht der wenig geschätzten Technik des Linolschnitts eine neue künstlerische Qualität, und durch die Größe überwindet er das übliche Grafikformat. Seine Absicht war, dass die Werke nicht im Grafikschrank verschwinden, sondern wie Bilder angesehen werden sollten. Die Zeichnung, in das weiche Material geschnitten, hebt sich von dem in Schwarz oder Rot gedruckten Grund als weiße Linien ab. Als feine Schraffur bilden sie ein vibrierendes Gewebe aus Weißformen, das die ganze Fläche einnimmt. In den langen Zügen der Umrisszeichnung einer Figur spiegeln sich die Körperbewegungen des Künstlers, Abb. 3 Caspar David Friedrich Auf einem Grabe schlafender Knabe / um 1802 Holzschnitt, 12,6×19,5 cm Kupferstich-Kabinett, SKD, Inv.-Nr. A 1925-390

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