45 der, auf der Platte am Boden kniend, wegen des fehlenden Abstands das entstehende Bild als Ganzes nicht überblicken kann. Die Stadien der Bearbeitung werden in je einem Zustandsdruck festgehalten. Durch eine zusätzliche Übermalung des Drucks, so wie bei dem Schnitt Dreibeiniger Akt, 1977, entsteht eine weitere Bildebene. Flächendruck, Zeichnung und Malerei verbinden sich zu einer Bildwirkung, die nur mit dieser Kombination der verschiedenen Techniken zu erzielen ist. Die Bäume-Mappe, 1974/75, mit 36 Radierungen wäre vermutlich nicht so umfangreich geworden, wenn es sich nur um die Darstellung von Einzelbäumen und Baumgruppen handelte (Kat. 45, S. 115–119). Baselitz erprobt mit diesen Blättern die Ausdrucksmöglichkeiten der verschiedenen Techniken – Kaltnadel, Strichätzung und Aquatinta – und experimentiert mit einer Vielzahl abstrakter Bildkonstruktionen. Die Formen sind nicht wie in den Baumstudien von Mondrian durch Abstraktion von der Natur gewonnen, sondern werden in den Radierungen neu erfunden. Trotzdem wirken die Bilder mit ihrem Reichtum an Formen, Flecken und Grautönen erstaunlich naturhaft. Malelade ist ein schwer verständliches Künstlerbuch, angeregt von einem naturwissenschaftlichen Kodex des Altertums, mit 41 Radierungen, in denen jeweils ein Textfragment aus sperrig eingeritzten Wörtern und eine figürliche Darstellung vereint sind (Kat. 46, S. 121–137). Der Titel Malelade, eine Wortkomposition, klingt geheimnisvoll, aber auch düster, weil »malade« (krank) deutlich herauszuhören ist. Hinzu kommt, dass in die Schriftplatte der Titelseite mit dem lesbaren und dem spiegelbildlichen Wort Malelade der Holzschnitt einer fallenden weißen Träne, die erst nach zahlreichen Anläufen ihre endgültige Form angenommen hat, eingedruckt ist (Kat. 46, S. 121). Warum wird den kommenden Seiten eine Träne vorausgesandt? Es ist die Träne des Abschieds! Die Folge von Wort und Bild umfasst den Lebenskreis vom Erschaffen der Wesen bis zum Tod, symbolisiert mit dem Totenschädel auf der Tafel 39 (Kat. 46, S. 134). Die Melancholie des Wissens, dass jedem Ursprung auch das Vergehen eingeschrieben ist, durchzieht den Zyklus. Bedingt durch die Notwendigkeit, auf der Kupferplatte in Spiegelschrift zu schreiben, erinnert die ungelenke Schrift an erste Schreibversuche. Immer wieder wird in den Farbradierungen das Wort »sein« (lat. esse), das Sein mit stammelnder Kindersprache beschworen. Wessen Wesenheit ist gemeint? Die eigene in den vielen Metamorphosen? Die Anrufungen »Hund sein« (Tafel 5, Kat. 46, S. 126–127) oder »Adler sein« (Tafel 16, Kat. 46, S. 132) erschaffen die Wesen, und die Namensbenennung wird durch die Vergegenwärtigung im Bild bestätigt. »Romantiker kaputt« (Tafel 12, Kat. 46, S. 131). Meint sich der Künstler selbst? Die Zeit, ein Romantiker zu sein, ist vorbei. Klingt in dem Rückblick leise Wehmut an oder ein trotziger Abbruch, als Aufbruch in die offene Zukunft? Untergang und Zerstörung bereiten den Boden, auf dem Neues entstehen kann. Die Folge endet zyklisch mit der Erinnerung an die Herkunft aus dem Dorf, dessen Name zu seinem Künstlernamen wurde: »wie Heimat einmal« (Tafel 38, Kat. 46, S. 134), wobei »einmal« auf die Vergangenheit und den Verlust hinweist, und in »bum bum« hört man das Echo der existenziellen Bedrohung durch explodierende Munition, deren Kugeln ihn beinahe getötet hätten. Versöhnend ist die Anrufung der Geliebten und der Wunsch nach Einssein mit ihr, »du sein du Geliebte du« (Tafel 39, Kat. 46, S. 134). Sie, die Geliebte, vermag selbst die Todesahnung durch die Überzeichnung des Totenkopfs zu verdrängen. Malelade, veröffentlicht 1990, bildet einen monumentalen Abschluss der frühen Grafik und schafft den Freiraum, mit neuen grafischen Formen zu experimentieren.8 Eine kleine Zeichnung von Katsushika Hokusai aus einem Brief des 83-jährigen japanischen Meisters von 1842, der sich im Nationaal Museum van Wereldculturen, Leiden, befindet, hat Georg Baselitz zu einer Serie von zweiteiligen Zeichnungen, 2015, und zu der Aquatinta-Radierung Hokusai und ein Paar von 2017 angeregt (Frontispiz).9
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