Leseprobe

140 Die Offenheit für die künstlerische Antwort auf verstörende Themen des menschlichen Daseins in der eigenen Gegenwart hat das Sammeln von Günther und Annemarie Gercken immer bestimmt. Aus den vielen Arbeiten in der Stiftung und Sammlung ragen drei druckgrafische Werkkomplexe von Georg Baselitz, Ernst Ludwig Kirchner und Hermann Nitsch in ihrem Umfang und ihrer Radikalität heraus, die hier näher vorgestellt werden. Die Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass für existenzielle Problemstellungen besonders überzeugende Bilder gefunden wurden. Diese sind in den klassischen Drucktechniken Radierung, Holzschnitt und Lithografie geschaffen und gelangen doch in ihrem innovativen und experimentellen Charakter über die medialen Grenzen hinaus. Es handelt sich um das 1989/90 entstandene Künstlerbuch und Radierwerk Malelade von Baselitz, mit dem der Künstler sein bildliches Vokabular grundlegend überprüfte, die Gruppe der berühmten frühen Schweizer Porträtholzschnitte Kirchners, die er während seiner tiefen persönlichen Krise 1917/18 geschaffen hat, und eine Mappe aus dem über acht Jahre erarbeiteten vierteiligen Lithografiewerk Die Architektur des Orgien Mysterien Theaters von Hermann Nitsch, welches das aktionistische Gesamtkunstwerk des Künstlers und das Visionäre seiner Architekturentwürfe in einer kaum noch zu überblickenden Materialsteigerung zusammenfasst. Das Künstlerbuch Malelade gilt als eines der bedeutendsten druckgrafischen Werke von Georg Baselitz und reiht sich ein in die großen Künstlerbücher des 20. Jahrhunderts.3 Entstanden im Wesentlichen im Frühsommer 1989 und erschienen 1990 sowohl als gebundenes querformatiges Großfolio-Buch in einer Auflage von insgesamt 80 Exemplaren wie auch zusätzlich als Mappenwerk, umfasst es 41 Tafeln, die bis auf den Holzschnitt für das erste Blatt alle in Kaltnadeltechnik geschaffen wurden.4 Die Mehrzahl der Tafeln kombiniert Bild und Schrift, es gibt aber auch Bilder ohne Text und reine Textblätter. Wie der Text stammt ebenso der Titel Malelade von Baselitz und verweist als Schachtelwort auf »malen«, »malad« und »Lade« (Kat. 46, S. 121–137).5 Der Text und die Bilder scheinen insgesamt in einer eher losen oder gar rätselhaften Beziehung zueinander zu stehen. Während auf einigen Tafeln ein direktes, ja scheinbar illustratives Verhältnis zwischen beispielsweise der Darstellung eines Hundes und der Zeile »Hund sein« besteht (Kat. 46, S. 126/127), sind in anderen Fällen die Bezüge zwischen Bild und Wort nicht offenkundig. Der Text hat einen regressiven Charakter sowohl in seinem äußeren Erscheinungsbild als ungelenke Handschrift, die der Künstler gewissermaßen »gegen den Strich« spiegelbildlich in die Platte geritzt hat, als auch sprachlich und inhaltlich: Er ist bestimmt von einfachen Substantiven wie Meise, Hund, Schwein und Hase und von insgesamt einem schlichten Vokabular sowie einer rudimentären Grammatik und holprigen Syntax, die in der Schreibschrift und im Kontext insbesondere der Tiermotive an die Sprache von Kindern erinnert, worauf Baselitz selbst aufmerksam gemacht hat: »Texte, die vergleichbar wären mit meinen Bildern, habe ich ja eigentlich nur einen gemacht. Und das ist ›Malelade‹, und in dieser ›Malelade‹ habe ich eine Sprache gesprochen, ich habe sozusagen Gedichte gemacht, und ich glaube, für mich ist diese Sprache ganz weit unten, am Anfang, das ist eine Kindersprache, eine Idiotensprache.«6 Dabei fügen sich die einzelnen Worte und Sätze vom Anfang bis zum Ende durchaus zu einem gesamten Gedicht, das einen eigentümlichen Klang und Rhythmus besitzt. Baselitz’ Ausgangspunkt für das Künstlerbuch war eine mittelalterliche Handschrift, der Physiologus in der Fassung des Codex von Smyrna, der 1922 im griechisch-türkischen Krieg in Smyrna (heute Izmir) verbrannt ist. Der Physiologus erläuterte als Naturlehrbuch die Tier- und Pflanzenwelt im Sinne der christlichen Heilsgeschichte und fand bis ins 18. Jahrhundert in ganz Europa starke Verbreitung. So erklärt sich zunächst einmal die Gegenüberstellung von Bild und Begriff bei Baselitz. Für das bessere Verständnis dieses Georg Baselitz Malelade

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