Leseprobe

142 sachlich und schematisch weisen sie für ihn aus als Instrument eines formalästhetischen Klärungsprozesses, den der Künstler immer dann anwendet, wenn er die Leidenschaft und Wildheit des zeichnerischen oder malerischen Impulses zu bändigen versucht und eine »zusätzliche Analyse«10 benötigt, die ihm die endgültige Fassung eines Bildes ohne Flüchtigkeit und Ungenauigkeit ermöglicht: »Die Druckgraphik dagegen benutzt ein klares, erarbeitetes Schema. Sie ist endgültiger und in ihrer spezifischen Weise distanzierter als Bilder und Zeichnungen.«11 Bezogen auf Malelade heißt das, dass die vermeintliche Einfachheit von Bild und Text zwar der »Unmittelbarkeit der Künstlergeste«12 im raschen zeichnerischen Zugriff der Kaltnadel geschuldet ist – und dies in stärkerem Maße als im Holzschnitt oder in der Lithografie –, dass aber zugleich die Tiefdrucke Distanz zur Zeichnung schaffen und als Bilder größter Verbindlichkeit gelten müssen, in denen Baselitz auf die Suche nach dem Ursprung künstlerischen Ausdrucks geht. In dieser künstlerischen Selbstvergewisserung als Fortsetzung und sogar Steigerung von dem, was Baselitz mit dem »Motiv« angestrebt hatte, geht der Künstler an den Anfang zurück, wie er selbst schreibt. Dieser Anfang lässt sich einerseits auf das elementare Verhältnis von Begriff und Bild beziehen, also auf eine semiotische Grundkonstellation, die bis zum Höhlengleichnis zurückreicht und Erkenntnisfragen stellt – Baselitz gibt mit der Motivumkehr darauf eine eindeutige Antwort. Andererseits sind sowohl der Physiologus, der jahrhundertelang Wissen und Bilder vermittelte, als auch der eigene biografische Umbruch nach 1945, der zugleich ein Endpunkt war, gemeint.13 Hier verschränken sich die Ereignisse um den Brand in Smyrna mit der Vernichtung des Codex und der Flucht vieler Menschen mit dem Ende von Krieg und Naziherrschaft und dem Verlust einer wie auch immer gearteten Heimat – dass die Entstehung des Künstlerbuchs in die Zeit der politischen Wende in der DDR fällt, kann als zusätzlicher Aspekt eines Kunstwerks für Zeiten des Neuanfangs betrachtet werden.14 Vor der Folie historischer Katastrophen und biografischer Brüche stellt Baselitz die Frage, welche Bilder überhaupt möglich sind. Bild und Text können sich hier assoziativ verstärken, bleiben dabei aber auch ganz autonom. So ist die legitime Präsentationsform von Malelade tatsächlich sowohl das Buch, das von vorn nach hinten geblättert und gelesen werden kann, als auch das Tableau zur Betrachtung aller Radierungen und Schriftbilder auf einmal, weil die aus der Vergangenheit aufsteigenden und bis in die Zukunft reichenden Bilder gerade in ihrer druckgrafischen Finalisierung eine universelle und radikale bildliche Gültigkeit besitzen. Die sechs großen Porträtholzschnitte Ernst Ludwig Kirchners in der Sammlung von Günther und Annemarie Gercken sind 1917/18 in der Schweiz entstanden, nachdem der schmerz- und rauschmittelabhängige Künstler auf Empfehlung des befreundeten Jenaer Philosophen Eberhard Grisebach im Januar 1917 nach Davos gekommen war, um sich dort im Sanatorium Schatzalp ärztlich versorgen zu lassen. Auf der Grundlage der bekannten Fakten zum Krankheitsbild der gelähmten Hände und Füße hat Günther Gercken als gelernter Mediziner und Biochemiker rückblickend eine jahrelange, durch Medikamentenmissbrauch verursachte »toxische Polyneuropathie« bei Kirchner erkannt.15 Kirchner reiste schon nach zwei Wochen aus Davos wieder ab, kehrte aber im Mai ins Sanatorium zurück, bevor er Mitte Juni in ein gemietetes Haus auf der Stafelalp bei Frauenkirch zog, wo er acht Wochen blieb. Auf Anraten von Henry van de Velde, den Kirchner im Juni in Davos kennengelernt hatte, begab er sich im September in die psychiatrische Heilanstalt Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee und ließ sich dort bis Anfang Juli 1918 behandeln. Den Kopf Henry van de Velde, hell (Kat. 1, S. 13) schnitt Kirchner im Sommer 1917 gewissermaßen als Auftakt zum Aufenthalt in Kreuzlingen noch auf der Stafelalp, die vier Holzschnitte Kopf Karl Butz. – Oberpfleger Karl Butz, Alter Bauer. – Kopf Senn R., Bildnis Willem van Vloten und Kopf Ludwig Schames (Kat. 4, 5, 3, 7, S. 16–21) entstanden im Kreuzlinger Sanatorium, das Werk Vater Müller (Kat. 6, S. 20) kurz nach seiner Rückkehr von dort. Ernst Ludwig Kirchner Porträtholzschnitte von 1917/18

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