Leseprobe

143 Kirchners Porträtholzschnitte von 1917/18, von denen die Mehrzahl in Kreuzlingen geschnitten wurde, zählen zu den eindrücklichsten druckgrafischen Menschendarstellungen Kirchners überhaupt.16 Schon Mitte der 1920er-Jahre hat Gustav Schiefler, der erste Herausgeber des Werkverzeichnisses der Druckgrafik Kirchners, die Werke als »Höhepunkt des Kirchnerschen Schaffens«17 gewertet, und Kirchner selbst hat bereits ein Jahr nach Vollendung hervorgehoben, wie unvergleichlich in diesen Holzschnitten »eine Stärke des Ausdruckes in eine Form gepresst«18 sei. Zunächst ist es überraschend, dass Kirchner als schwer kranker Mann zu dieser außergewöhnlichen künstlerischen Leistung imstande war, erst bei genauerer Betrachtung erscheint Kirchners eigener prekärer Gesundheitszustand geradezu als Voraussetzung für seine gesteigerte künstlerische Empfindsamkeit und hohe Ausdruckskraft, die sich in den Drucken niedergeschlagen haben.19 Der Sanatoriumsaufenthalt in Kreuzlingen war Höhe- und Endpunkt von Kirchners dramatischer Krankengeschichte während des Ersten Weltkriegs, die von der Angst des Künstlers beherrscht war, an die Front eingezogen zu werden. Schon wenige Wochen nach Antritt seines Militärdiensts bei einem Artillerieregiment in Halle (Saale) wurde Kirchner im September 1915 für längere Zeit als dienstuntauglich beurlaubt. In dieser ersten großen Krise entstanden das berühmte Selbstbildnis als Soldat, auf dem sich Kirchner nicht als Künstler, sondern alptraumhaft als handamputierten Kriegsinvaliden dargestellt hat (Abb. 2), und die Holzschnittfolge zu Adelbert Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In der Figur des Schlemihl, der seinen Schatten an den Teufel verkauft, erkannte sich Kirchner selbst, sodass die Illustrationen als Selbstporträts begriffen werden müssen, in denen sich der Künstler als das Opfer darstellt, das durch seine Kriegsangst den »Verlust der Eigenart«,20 also der eigenen seelischen Abb. 2 Ernst Ludwig Kirchner Selbstbildnis als Soldat 1915 / Öl auf Leinwand 69,2×60,9 cm Allen Memorial Art Museum, Oberlin/OH, USA

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