10 BLICKWINKEL Wie alle historischen gesellschaftlichen Ereignisse müssen auch die Menschenschauen vielfältig kontextualisiert werden. Dieser Sammelband bietet deshalb verschiedene historiografische und gegenwärtige Zugänge. Er zeigt in Bezug auf die Stadt Dresden und ihre Umgebung auf, welche konkreten historischen Phänome als Menschenschauen behandelt werden können und wie diese einzuordnen sind. Dieses Themenfeld wird aus unterschiedlichen theoretischen und normativen Blickwinkeln betrachtet: So kann es für eine Auseinandersetzung fruchtbar sein, die Menschenschauen sowohl im Kontext von Urbanisierung und Industrialisierung mit einer sich herausbildenden Dresdner Vergnügungskultur zu betrachten als auch primär im Zusammenhang mit einer kolonialen Weltordnung, die für die Teilnehmenden der Menschenschauen Entwürdigung, Misshandlung und mitunter gar den Tod bringen konnte. Um diese Vielfalt an Perspektiven abzubilden, gibt es im vorliegenden Band neben Beiträgen aus der kritischen Zivilgesellschaft (siehe Beitrag von Dresden Postkolonial) und von privaten Sammlern (siehe Beiträge von Hartmut Rietschel), ebenso solche aus dem Umfeld verschiedener wissenschaftlicher Institutionen wie Universitäten, Museen und Archiven. Die Herausgeber:innen haben sich nicht nur aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit der Blickwinkel, sondern auch wegen der Forschungslücken dafür entschieden, den am Thema Interessierten verschiedene Beitragsformate anzubieten: Die bebilderten Essays verschiedener Autor:innen setzen sich mit den Themenkomplexen »Perspektiven – Reflexionen – Forderungen«, »Unterhaltung – Dienerschaft – Vorführung«, »Vergnügen – Geschäfte – Bühnen«, »Begegnungen – Austausch – Missbrauch« und »Kunst – Museen – Wissenschaft« auseinander. Dazwischen sind Objektgeschichten eingestreut. Da zu allen (unbelebten) Objekten auch Subjekte, also handelnde Menschen, gehören, gibt es im Sammelband zudem Interviews mit Menschen, die in unterschiedlicher Form vom Thema betroffen sind. Hinzu kommen biografische Skizzen von Menschenschau-Teilnehmenden aus verschiedenen Weltregionen. Die durch Illustrationen von Johanna Gehring gerahmten Einblicke zeichnen ambivalente Lebenswege nach. Diese changieren oft zwischen Missbrauch und Selbstermächtigung. Die ausgewählten »biografischen Skizzen« stellen einen exemplarischen Ansatz dar, wie das Thema der Menschenschauen aus neuen Blickwinkeln betrachtet und künstlerisch gefasst werden kann. Das Herausgeber:innen-Team setzte sich zudem mit den kontroversen Fragen zum sensiblen Umgang mit Sprache und Bildern auseinander. Kontrovers deshalb, weil das Thema »Menschenschauen« inzwischen vor allem im Kontext der Debatten um Kolonialismus und Rassismus verhandelt wird. Die Konstruktion des »Anderen« im Medium von Völkerschauen spiegelt sich in den überlieferten Bildern und Textquellen wider. Da es nicht die eine optimale Lösung im Umgang mit diesen Problematiken gibt, finden sich im Sammelband verschiedene Ansätze zum Umgang mit schwierigen Begriffen (zum Beispiel durch Durchstreichungen von diskriminierenden Begriffen) und zur Praxis der diskriminierungssensiblen Sprache (zum Beispiel durch die Verwendung von Selbstbezeichnungen wie Schwarz). In einigen Fällen steht ein unterschiedlicher Umgang mit problematischen Begriffen nebeneinander – etwa beim »Indianer«-Begriff für indigene Amerikaner:innen. Genauso lag die Verwendung einer geschlechtersensiblen Sprache in der Hand der einzelnen Autor:innen. Auch beim Einsatz von
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