Leseprobe

16 kolonialpropagandistischer Agenda Bewohner:innen der Kolonien zur Schau gestellt, um ethnische Vielfalt, aber auch Gewerbefleiß, Ausbeutung natürlicher Ressourcen und nicht zuletzt den vermeintlich zivilisatorischen Fortschritt im Dienste der Kolonialherren zu präsentieren.2 In Deutschland erlebten die Völkerschauen ihre Hochzeit zwischen 1880 und 1914, also in der Periode des deutschen Kolonialreichs. Nach dem Ersten Weltkrieg waren sie in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren weiterhin gängig. Allerdings erwuchs ihnen mit den in fernen Ländern spielenden, opulent ausgestatteten Stummfilmen der 1920er ein Konkurrent, der offenbar die Illusion exotischer Traumwelten zusehends besser vermittelte als selbst die bestausgestattete Schau.3 Da persönliche und sexuelle Kontakte zwischen Besucher:innen und VölkerschauTeilnehmer:innen nicht effektiv unterbunden werden konnten, setzte der Nationalsozialismus dieser Form des Unterhaltungsgeschäfts schließlich ein Ende.4 KOMMERZIELLE VÖLKERSCHAUEN DOMINIERTEN DIE DEUTSCHE SZENE Im Gegensatz zu Großbritannien oder Frankreich, wo Völkerschauen von offiziellen Stellen sehr viel geplanter kolonialpropagandistisch eingesetzt wurden, war die deutschsprachige Szene von kommerziellen Völkerschau-Organisator:innen dominiert. Diese warben zwar mit der Förderung des kolonialen Gedankens. Eine Analyse der Vorführungen und als »Völkerschau-Dorf« inszenierten Attraktionen zeigt jedoch, dass hauptsächlich Spannung, Ethnografisch-Dokumentarisches und zuweilen der erotische Appeal der Teilnehmer:innen im Mittelpunkt der Darbietungen standen. So folgten ab den 1890er-Jahren die meisten Vorführungen einer festen Szenenfolge in einem dramaturgischen Ablauf mit friedlichem Anfang (etwa einer idyllischen Dorfszene), dramatischem Höhepunkt (zum Beispiel einem Überfall) und Happy End (Friedensschluss mit Hochzeit oder gemeinsamem Fest). Einzig für die Kolonialausstellung der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 wurden ausdrücklich Menschen aus den deutschen Kolonien angeworben. In der langen Reihe der kommerziellen Schauen in Deutschland zwischen 1875 und 1932 waren sie sonst mit einigen wenigen Schauen zum Thema Samoa, Kamerun, Togo oder Ostafrika eher die Ausnahme. Allerdings wären Völkerschauen ohne die durch globalen Handel und Kolonialismus geschaffene Infrastruktur nicht möglich gewesen. VölkerschauTeilnehmer:innen wurden meist aus den Kolonialgebieten anderer Staaten bzw. unter deren indigenen Minderheiten angeworben. Gute Schiffs- und Eisenbahnverbindungen machten die reibungslose Anreise nach Deutschland möglich. Sie garantierten ein weiteres Spezifikum der kommerziellen Schauen: Wie Zirkusse, die teilweise ebenfalls Völkerschauen zeigten, waren diese mobil und gingen auf ausgedehnte Tourneen durch ganz Europa – darunter auch immer wieder nach Dresden – oder sogar Amerika. Viele Schauen bereisten kleinere Orte, gerade in Sachsen. Im Gegensatz zu den stationären Kolonial- und Weltausstellungen erreichten die kommerziellen Völkerschauen so ein Millionenpublikum, wovon beeindruckende Besucherzahlen an den einzelnen Gastspielorten zeugen, die sich an einem einzigen Sonntag oft im vier- bis fünfstelligen Bereich bewegten. Obwohl »nur« eine Form des Unterhaltungsgeschäfts, sollte die Rolle von Völkerschauen bei der Verstärkung (seltener wohl auch Prägung) von Stereotypen über Menschen fremder Kulturen daher keinesfalls unterschätzt werden.

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