Leseprobe

36 In dem Sammelband dominieren wissenschaftliche Beiträge aus einer europäischen Perspektive. Ergänzend erzählen insgesamt sieben über den Band verteilte Kurzbiografien die Lebensgeschichten von Teilnehmenden von Menschenschauen. Die häufig anonymisierten oder mit Kunstnamen versehenen Darsteller:innen sollen dadurch wieder mit ihrer individuellen Geschichte sichtbar werden. Die Erzählungen stellen die Personen nicht in erster Linie als Opfer dar, sondern als handelnde und selbstbewusste Akteur:innen. Die Illustrationen der biografischen Skizzen stammen von Johanna Gehring. In einem Gespräch mit Thomas Steller reflektierte sie ihre Arbeit, hier werden Auszüge wiedergegeben. Ihre Illustration auf dieser Doppelseite zeigt den Prozess der künstlerischen Auseinandersetzung mit den Biografien. Mit SEHGEWOHNHEITEN BRECHEN »Illustration ist für mich immer forschende Auseinandersetzung. Ich stelle mir Fragen nach Sehgewohnheiten: Wer sieht, wer wird gesehen? Ich frage nach stigmatisierenden, stereotypisierenden, gewaltvollen Darstellungsformen und wie sie zu brechen sein könnten. Wichtigste Grundlage ist dabei Respekt vor den Menschen, vor ihren Geschichten und Kämpfen.« »Die Quellen und Abbildungen, mit denen ich gearbeitet habe, stammen überwiegend aus kolonialrassistischem Kontext und geben die Perspektive der Kolonisatoren wieder. Sie sind teilweise gewaltvoll, sie produzieren eindimensionale und klischeehafte Darstellungen. Die Abbildungen und Beschreibungen der Personen dienten der Abgrenzung und Aufwertung ihrer europäischen Betrachter:innen. Der Südamerikaner Pichocho z.B. wird auf seine vermeintliche minderwertige Andersartigkeit reduziert, ebenso das Kind bzw. später die junge Frau ›Krao Farini‹, deren tatsächlicher Name nicht einmal bekannt ist. Diese Blickregime und Sehgewohnheiten wollte ich auf keinen Fall reproduzieren, weil sie nach wie vor koloniale und gewaltvolle Blickpraktiken stärken und fortschreiben. Die Erkenntnis, dass dieser Wunsch in den bestehenden Gesellschaftsstrukturen noch immer utopisch ist, kann vielleicht ein hilfreicher erster Schritt sein.«

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