93 NAME gesucht, GESCHICHTE gefunden Eine Puppe als Zeugnis Dresdner Völkerschauen Andrea Rudolph Eine Puppe in einem rot-weiß gestreiften Kleid wartete darauf, gemeinsam mit den anderen Puppen aus der Spielzeugsammlung des Stadtmuseums Dresden online in der digitalen Sammlungsdatenbank präsentiert zu werden. Doch etwas sprach noch dagegen: Bei der Übertragung der Informationen von der papiernen Karteikarte aus dem Jahr 1983 in die Museumsdatenbank Anfang der 2000er-Jahre war der in den 1980er-Jahren noch gängige, heute rassistisch bewertete Begriff »N*-Puppe« als Bezeichnung übernommen worden. Um für die digitale Welt sichtbar zu werden, galt es daher, einen anderen Namen für die Puppe zu finden. Darüber hinaus stellte sich die Frage, wie sie – eine der gerade einmal drei schwarzen Puppen in der Sammlung – aus rassismuskritischer Sicht zu bewerten sei und wie sie in das Stadtmuseum gelangt war. Recherchen zeigten, dass die Waltershausener Puppenfabrik J. D. Kestner jun. bei der Herstellung der Puppe um 1905 auf dasselbe Kopfmodell zurückgegriffen hatte wie bei ihren weißen Puppen. Es handelt sich um einen Celluloidkopf der Marke Schildkröt, der lediglich mit dunkler Farbe überzogen worden war. Dies unterscheidet die Puppe von anderen Fabrikaten, die ethnische Merkmale mehr oder minder realistisch oder aber überzeichnet wiedergaben. Auch die hölzernen und aus Masse gefertigten Gliedmaßen waren braun gefasst worden. Bis auf die dunkle Hautfarbe, die schwarze Echthaarperücke und die braunen Glasaugen unterschied sich die Puppe damit nicht von den weißen Varianten des Herstellers mit der Seriennummer 200. Die alten Zugangsunterlagen hielten eine Überraschung bereit: Die einstige Puppenbesitzerin – eine Krankenschwester und Tochter des Juristen und späteren Dresdner Stadtrats Wilhelm Christer (1872–1911) – hatte 1973 ihrer Schenkung einen maschinenschriftlichen Bericht beigefügt. Darin schrieb sie, dass sie die Puppe 1906 als sechsjähriges Mädchen im Dresdner Zoo bei einem Besuch einer Völkerschau geschenkt bekommen hatte. Ihr Onkel und ihre Tante hatten einen der Teilnehmer der Schau – vermutlich die im April/Mai 1906 veranstaltete »Afrika-Ausstellung« des Impresarios Carl Marquardt (1860–1916) – für die Übergabe engagiert. »Er hob mich hoch auf seinen Arm und hielt sie mir vor. Aber ich schrie und fürchtete mich zuerst. Er schaukelte mich auf dem Arm und ging mit mir und dem Püppchen zu kleinen schwarzen Kinderchen und deren Mutti, und weil die Alle so freundlich waren[,] beruhigte ich mich[,] und schließlich wurden wir noch gut Freund.« Ihre Puppe nannte sie »Seeli«. Den Namen hatte sie als Kind von »Suleika« in »Seelika« abgeleitet und dies zu »Seeli« als Kosename abgekürzt. Die Schenkerin bewahrte ihre Puppe im Originalkleid mehr als 65 Jahre auf, bevor sie sie an das Stadtmuseum übergab. Als Kurbelkopfpuppe (Serien-Nr. 200) mit Spitzname »Seeli« ist sie nun als Erinnerungsstück an eine Dresdner Völkerschau Teil der Sammlung und online präsent. Kurbelkopfpuppe (Serien-Nr. 200) von J. D. Kestner jun., Waltershausen, und der Rheinischen Gummi- und CelluloidFabrik, MannheimNeckarau. Celluloid, Masse, Holz, Textil, Echthaar, Glas, 1906
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