156 Das Dasein der Julia Pastrana war sowohl zu Lebzeiten als auch nach ihrem frühen Tod geprägt durch Ausbeutung und Entmenschlichung. 1834 in Mexiko geboren, litt sie vermutlich seit ihrer Geburt unter Hypotrichose und Hyperplasie, also genetischen Veränderungen, die zu starkem Haarwuchs auf ihrem gesamten Körper und einem besonders ausgeprägten Kiefer führten.1 Sie soll laut zeitgenössischen Berichten den »Rootdigger Indians« aus dem Sierra-Madre-Gebirge angehört haben,2 einem fiktionalen Stamm, der im 19. Jahrhundert von europäischen »Entdeckern« erfunden wurde, um verschiedene Gruppen zusammenzufassen.3 Nach dem Tod ihrer Mutter zog sie nach Culiacán, um im Haus von Pedro Sanchez, 1836/37 Gouverneur von Sinaloa, als Dienstmädchen zu arbeiten.4 Mitte der 1850er-Jahre verkaufte Sanchez die junge Frau an den Mexikaner Francisco Sepulveda, über den sie an den amerikanischen Impresario Theodore Lent (†1884) gelangte.5 Er organisierte zuerst in den USA und später in Eng1land erste Zurschaustellungen von Julia Pastrana, bei denen sie als »grand and novel attraction« (»großartige und neue Attraktion«), »nondescript« (»Unbeschreibliche«), »bear woman« (»Bärenfrau«) oder »Mexican ape woman« (»mexikanische Affenfrau«) beworben wurde.6 Während ihrer Auftritte trug sie bunte Kleider, tanzte und sang Lieder für das Publikum (siehe Abb. 1). Die Presse dokumentierte in Zeitungen ihre Auftritte und schilderte das Erstaunen der Zuschauenden über ihre Erscheinung.7 JULIA PASTRANA 1858 IN DRESDEN Julia Pastrana gehörte von nun an mit ihrem von der Gesellschaft als abnorm wahrgenommenem Äußeren zu dem Personenkreis, der in »Freakshows«, in Zirkussen, auf Jahrmärkten oder sonstigen Bühnen vorgeführt und ausgestellt wurde. Im Herbst 1857 debütierte sie in Deutschland auf der Krollschen Bühne in Berlin, wechselte danach zum Circus Renz.8 Als sie mit Renz zwischen dem 4. und 17. April 1858 in Dresden gastierte, kündigte der Zirkus sie in den Dresdner Blättern als »Miss Julia Pastrana aus der mexikanischen Wüste«9 an und machte auf ihr besonderes Äußeres in Verbindung mit ihren künstlerischen Darbietungen aufmerksam: »Diese seltenste Naturerscheinung, welche je lebend vorgeführt wurde, wird heute und täglich nach Beendigung der Reitvorstellung ihre Nationalgesänge vortragen und ihre Tänze produciren.«10 In den Dresdner Nachrichten wurde ihr eine mehrteilige Serie zur Beschreibung »ihrer Art« gewidmet. Dort hieß es: »Wir halten es für unsere publicistische und kritische Pflicht, dieses dem Vernehmen nach sehr gutmüthige, harmlose und der christlichen Liebe sehr würdige Wesen vor dem Verdachte zu bewahren, Tochter eines Pavians zu sein, und werden demgemäß unsere, diesem Verdachte zuwiderlaufende Ansicht über die Entstehung dieses abnormen Individuums, sobald es uns der Raum gestattet, gründlicher motiviren. Jedenfalls ist Julia Pastrana eines der größten physiologischen Phänomene, die je gesehen und öffentlich gezeigt wurden. Dieselbe producirte sich in der Montagsvorstellung als Sängerin und Tänzerin auf einem eigens dazuerrichteten [sic!] Podium.«11 Entgegen vieler Zeitgenoss:innen vertraten die Dresdner Nachrichten nicht den Standpunkt, dass Julia Pastrana die Tochter eines Affen sei. Dabei handelte es sich um ein Erklärungsmodell für ihr ungewohntes Erscheinungsbild, das sich für viele Menschen nicht mit dem eigenen Weltbild in Einklang bringen ließ und auch in der Wissenschaft für Diskussionen sorgte. So wurde Pastrana während ihres Dresden-Aufenthalts zum Gegenstand der Forschung und Anschauung, als sie »im Zwinger-Salon von Aerzten und Naturforschern bewundert wurde«12 und
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