Leseprobe

7 KULTUR DES ERINNERNS IN DRESDEN In der sächsischen Landeshauptstadt Dresden hat die Erinnerungskultur mit all ihren Facetten eine besondere Bedeutung. Besonders deswegen, weil nicht nur Politik, Wissenschaft und Forschung an die Vergangenheit erinnern, sondern auch eine lebendige Zivilgesellschaft. Nicht wenige der Erinnerungs- und Gedenkanlässe sind allerdings unbequem. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat Dresden es geschafft, vielfältige Anlässe zum gemeinsamen Gedenken, Erinnern und Mahnen zu etablieren. Ein jüngeres Beispiel ist der Gedenktag für Marwa El-Sherbini (1977– 2009), die aus rassistischem und islamfeindlichem Hass ermordet wurde.1 Menschenfeindlichkeit und Rassismus haben viele verschiedene Wurzeln, aber nicht alle sind im öffentlichen Bewusstsein. Erinnerungsarbeit ist nie final oder abgeschlossen. Auch in Dresden gibt es Ereignisse und Bezüge zur Vergangenheit, die im kollektiven Gedächtnis weitestgehend fehlen, obwohl die authentischen Orte des Geschehens sowie ernstzunehmende Nachwirkungen in der Gegenwart vorhanden sind. DER AUSGANGS- UND MITTELPUNKT Ein solcher Ort mit schwierigem Erbe ist der Dresdner Zoo. Der heutige Besuch dort ist in der Regel geprägt von schönen Familienerlebnissen: Lachende Kinder, stolze Eltern und Großeltern tummeln sich vor den Gehegen und Käfigen mit Tieren. Dahinter blicken die präsentierten Tiere zurück. Nicht sichtbar ist, dass es eine Zeit gab, in der lebende Menschen von einem Aufführungsplatz auf das Zoopublikum zurückblickten. Es waren von den Dresdner:innen als »fremd« wahrgenommene Menschen, die der Zoo gegen ein Eintrittsgeld präsentierte. Dresden war ein bedeutender Ort dieser sogenannten Völkerschauen. Sie entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum beliebten und hoch professionalisierten Unterhaltungsgeschäft mit teils widersprüchlichen Dynamiken, denn die Motivation der Teilnehmenden sowie die Rahmenbedingungen der Schauen waren jeweils sehr unterschiedlich (siehe den einführenden Beitrag von Hilke Thode-Arora). Dass ihre Konjunktur ab 1870 so rasch zunahm, steht im Zusammenhang mit der stark beschleunigten Großstadtentwicklung. Die dort lebenden Menschen interessierten sich für neue und andere Formen der Unterhaltung, um den Alltag hinter sich zu lassen. Besonders anschaulich wird dieses Entfliehen in eine »exotische Traumwelt« bei verschiedenen Künstler:innen, die die Völkerschauen als Inspirationsquelle nutzten (siehe Beiträge von Silvia Dolz und Steffen Förster). Als das Stadtmuseum 2021 begann, sich dieser Leerstelle in der Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur Dresdens zu widmen, waren die Einzelheiten zu den regionalen Menschenschauen in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt.2 Das ist bemerkenswert, denn die Zurschaustellungen fanden seit dem 17. Jahrhundert bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts an unterschiedlichen Dresdner Orten statt. Neben dem Zoologischen Garten wurden Menschen- und Völkerschauen auch in Gaststätten und Hotels, Zirkussen (siehe Beitrag von Sabine Hanke), auf Jahrmärkten und Volksfesten wie der Dresdner Vogelwiese, dem städtischen Ausstellungsgelände mit Großveranstaltungen, etwa anlässlich der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 (siehe Beitrag von Kathryn Holihan/

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