Leseprobe

8 Julia Radtke), und in Panoptiken (siehe Beitrag von Christina Ludwig) gezeigt. Das Phänomen ist eng verwoben mit der menschlichen Lust, etwas Sensationelles, oft als »andersartig« Wahrgenommenes zu beobachten. Nicht nur ein »exotisches«, zumeist außereuropäisches Aussehen verleitete zum Schauen, sondern auch Anomalien des menschlichen Körpers (siehe Beiträge von Sybilla Nikolov und Andrea Rudolph/Katharina Steins). Das Publikum bewegte sich dabei allerdings in einem künstlich hergestellten Setting: Die Darbietungen, etwa auf der »Völkerwiese« des Dresdner Zoos, waren nach einem Drehbuch inszeniert worden, genau kalkulierte Spektakel sollten Authentizitätsmomente erzeugen. Obwohl der Dresdner Zoo seit den 1870er-Jahren einer der wichtigsten Veranstaltungsorte im Deutschen Kaiserreich war, gibt es zu den dort veranstalteten Menschen- und Völkerschauen bislang nur wenige und begrenzte Forschungsbeiträge. Auch die postkoloniale Kontextualisierung des Ortes und der dort stattgefundenen Menschenschauen steht noch aus. Um den Umgang mit diesem Erbe sowie weitere Forschungsarbeiten anzuregen, wurden seit 2021 durch das Stadtmuseum umfangreiche Recherchen durchgeführt. Einen Ausgangspunkt für weitere Auseinandersetzungen kann die von Volker Strähle erarbeitete tabellarische Gesamtübersicht der im Dresdner Zoo präsentierten 76 Völker- und Menschenschauen für den Zeitraum von 1878 bis 1934 bilden. Mit etwa 65 nachgewiesenen Völkerschauen sind damit deutlich mehr solcher Schaustellungen dokumentiert als für Leipzig.3 Detailliertere Studien zu einzelnen Schauen bieten einen Einblick in Rekrutierungspraktiken der Unternehmer sowie in die Handlungsmacht der indigenen Akteur:innen (siehe Beiträge von Bodhari Warsame und Clemens Radauer). Besonders interessant ist die Tatsache, dass ethnografische Objekte in Zusammenhang mit den Völkerschauen nach Dresden gelangten und sich heute in den Sammlungen des Museums für Völkerkunde Dresden (siehe Beitrag von Petra Martin) und im Stadtarchiv Dresden befinden. Warum waren die Dresdner:innen aller Bevölkerungsschichten so fasziniert von den Menschenschauen, dass die Zahl der Besuche in die Hunderttausende ging? Es war unter anderem der niedrigschwellige Zugang, denn Menschen- und Völkerschauen funktionierten ohne Sprache. Die Besucher:innen mussten nur Menschen anschauen. Das Visuelle und zugleich Körperliche bestimmte das Phänomen. Wahrgenommen wurden primär körperliche Merkmale, Ausstattung und Eigenarten sowie kulturelle Unterschiede. Parallel nutzte die sich gerade ausformende Wissenschaftsdisziplin der Anthropologie Völkerschauen für ihre »vergleichende Rassenkunde«. Die Menschen- und Völkerschauen prägten ein koloniales Blickregime: Die sich als überlegen empfindenden weißen »Herrenmenschen« blickten dabei auf die von ihnen kolonisierten Subjekte herab. Dass die Völkerschauen im Dresdner Zoo eine Vorgeschichte, Randereignisse und eine Nachgeschichte besitzen, wird in den unterschiedlichen Beiträgen der Autor:innen sichtbar. Kommerzielle Schauen mit dem Fokus auf »exotische Völker« stellten etwa nicht die ersten Begegnungsmomente mit »Fremden« dar. Bereits ab dem 17. Jahrhundert beschäftigte der Dresdner Hof »andersartig« aussehende Menschen (siehe Beiträge von Matthias Donath und Eva Seemann). Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert entwickelten sich die Menschenschauen dann zu einem Teil der bürgerlichen Vergnügungskultur (siehe Beitrag von Stefan Dornheim). 1 Völkerschau-Teilnehmender vor einem Zaun und dem Hinweisschild »Achtung! alle Tiere beissen«, wahrscheinlich zur Schau »Das Sudanesendorf« im Dresdner Zoo. Unbekannte:r Fotograf:in, um 1909

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