Leseprobe

METROPOLEN 40 Dass in den 1920ern die europäischen Metropolen – von Paris bis Berlin, von Prag bis Moskau – die Brennpunkte künstlerischer Innovationen waren, ist nicht weiter erstaunlich. Kunstzentren waren alle diese Städte schon weit früher gewesen. Allerdings veränderte sich damals der Blick auf die Metropole, was mit sozial-, medien- und kunstgeschichtlichen Entwicklungen und ihren wechselseitigen Effekten zu tun hat. Die große Stadt war nicht nur Schauplatz und Soziotop künstlerischer Avantgarden und ihrer europäischen wie transatlantischen Vernetzung, sondern sie wurde in neuer Weise zum Material und Medium von Kunst. Der vorliegende Essay geht diesen beiden Aspekten der Verbindung von Kunst und Metropole nach. In ihrem Fluchtpunkt liegt ein Motiv, das wie kein zweites für die 1920er-Jahre steht: das Tempo und die permanente Beschleunigung (Abb. 1). In diesem Motiv verschränken sich Stadtwahrnehmung und Kunstdiskurs, dabei spiegelt es weniger eine gesellschaftliche Realität als vielmehr eine spezifische Imagination von Gesellschaft wider: fragmentiert, akzeleriert und der Zukunft zugewandt. 2 Ernest Hemingway, Sylvia Beach und zwei Freundinnen (v. r. n. l.) vor Shakespeare and Company, Paris um 1928 Die Metropole und die Avantgarde Die Bedeutung der europäischen Metropolen für die Herausbildung der künstlerischen Moderne ist unbestreitbar, das Bild von der Moderne als einer reinen Metropolenkunst bedarf allerdings der Differenzierung. Zunächst waren es durchaus die großen Hauptstädte und Kunstzentren des 19. Jahrhunderts, in denen sich um 1900 auch das Spektrum der Moderne zu formieren begann. Das gilt für Paris, London oder Moskau, aber auch für traditionelle Kunststädte wie München und Wien, wo sich avantgardistische Splittergruppen als Gegenpol zum hegemonialen Kulturbetrieb herausbildeten: etwa der Blaue Reiter und der Komplex der Schwabinger Bohème oder die Wiener Secession und die musikalische Zweite Wiener Schule um Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton von Webern. In beiden Fällen provozierte eine ausgeprägt konservative offizielle Kunstszene kleine, aber konzentrierte Gegenbewegungen. In den 1920er-Jahren brachte die gesteigerte Mobilität dann auch einen stärkeren kulturellen Austausch zwischen den urbanen Zentren mit sich. Die europäischen Hauptstädte wurden aus Schaltzentralen des Weltkriegs wieder zu Umschlagplätzen transnationaler Beziehungen und Biografien. In Paris trafen sich Pablo Picasso, Ezra Pound, Igor Strawinsky und Sergej Djagilew, Ernest Hemingway (Abb. 2) und Hadley Richardson, Gertrude und Leo Stein, Sherwood Anderson, F. Scott und

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1