41 Zelda Sayre Fitzgerald. Sie alle lebten und arbeiteten zeitweise in der französischen Kapitale und ließen sich durch ihr Nachtleben treiben. George Gershwins Komposition An American in Paris von 1928 setzte diese transatlantische Vernetzung der Metropolen in schwungvolle Musik um. Innerhalb des deutschsprachigen Raums nahm die künstlerische Bedeutung von Wien oder München ab, Berlin wurde zum übermächtigen Zentrum, das die Hauptakteur*innen der radikalen Moderne an sich zog wie das Licht die Motten. Die inflationsgeschüttelte Stadt galt als freizügig und preiswert zugleich.4 Für Künstler*innen aus dem seit 1917 bolschewistisch regierten Russland war Berlin ebenso ein Magnet wie für viele andere: Wladimir Nabokows Schreiben ist eng mit Berlin verbunden, aus England kamen W. H. Auden und Christopher Isherwood, aus Prag kam Egon Erwin Kisch, und die aus Wien Zugezogenen bildeten in Berlin eine eigene kleine Gesellschaft in der Gesellschaft: von Joseph Roth über Alfred Polgar bis Karl Kraus, von Vicki Baum bis Gina Kaus, von Arnold Schönberg bis Hanns Eisler.5 Die Sonderstellung Berlins in den 1920er-Jahren lag vor allem darin begründet, dass die Stadt gerade keine traditionelle Kunstmetropole war. Berlin, »dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein«,6 wie es der Kunstkritiker Karl Scheffler auf den Punkt brachte, galt als das europäische Chicago, als neue Stadt, die sich für Experimente mit dem Neuen geradezu anbot. Andrea Pagni hat in einem Vergleich zwischen Berlin und Buenos Aires gezeigt, dass diese kulturelle Offenheit auf ganz bestimmten historischen Voraussetzungen beruhte: Beide Städte waren um 1900 extrem schnell gewachsen, galten – so Pagni – als »Städte ohne starke kulturelle Tradition […]. Berlin und Buenos Aires werden in den 1920er Jahren als im Bau befindliche, der Zukunft geöffnete Städte wahrgenommen.«7 Als zukunftsoffen konnten damals auch die Metropolen der neu gegründeten Sowjetunion gelten, und zwar insofern, als sie zum Schauplatz eines gigantischen Gesellschaftsexperiments erklärt wurden. So zeichneten sich die neuen Kunstmetropolen der 1920er-Jahre dadurch aus, dass sie von ihrer Gesellschaftsgeschichte her das Ungesicherte, Aufregende und Experimentelle verkörperten, das die Kunst wiederholte und auf die Spitze trieb. Wenn zahlreiche Künstler*innen ein Leben zwischen den Metropolen führten, heißt das nicht unbedingt, dass nur die Hauptstädte und die großen Zentren für die Entwicklung der Avantgarden von Bedeutung waren. Neben den alten europäischen Kunstzentren – London, Paris, München, Wien oder Prag – und dem neuen Star der Szene, der deutschen Hauptstadt Berlin, waren abgelegenere Städte wie Riga und Zagreb wichtige Bezugspunkte der künstlerischen Moderne. Mit Zürich hatte die Dada-Bewegung eine eher provinzielle Stadt als Ausgangspunkt und in Weimar, Leiden, Vinkovci und sogar den kleinen Tiroler Orten Imst und Tarrenz nicht unbedeutende Subzentren. Ferner wären Helsingfors für den schwedischen Expressionismus, Witebsk für den russischen Suprematismus und Konstruktivismus sowie Tiflis für den russischen Futurismus zu nennen, die allesamt eher abseits der Metropolenlandschaft lagen.8 Das Verhältnis zwischen Kunst und Stadt war in den 1920er-Jahren also denkbar vielfältig. Wir müssen den Kern dieses Verhältnisses eher in der Art und Weise suchen, wie die Stadt in der Kunst thematisiert wurde. Mehr noch: Die Stadt selbst wurde zum künstlerischen Medium, in dem sich gesellschaftliche Utopien wie Dystopien spiegelten. 3 Romanisches Café in Berlin um 1925
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1