Leseprobe

NEUE FRAU NEUER MANN MENSCHENBILDER 112 »der schöne mensch in der neuen kunst« wenn die zeichen nicht trügen, so bereitet sich eine renaissance der menschendarstellung in der kunst vor. nachdem die futuristen seinerzeit in ihren manifesten tod dem mondschein und auch tod dem nackten menschen in der kunst geschworen hatten – »es ist zehn jahre lang verboten, akte zu malen!« –; nachdem im zeichen des expressionismus und der abstrakten kunst tod dem gegenstand und jeglicher beziehung zur natur verkündet wurde: nachdem, wenn die menschliche gestalt dennoch in erscheinung trat, dies in der mehr oder minder starken deformation geschah, im guten wie im schlechten sinne; nachdem sodann verismus und neue sachlichkeit den menschen zwar darstellten, aber verbiedermeiert oder in penetranter naturalistik; so müßten nach solchem entwicklungsverlauf recht eigentlich notwendigerweise die ideale wiederaufleben, die einen hans v. marees ein leben lang beherrschten. die ideale, die sich um den hohen stil in der kunst bemühen. deren höchster gegenstand wird immer der mensch, der kunstschöne mensch sein. es werden immer formungen sein, die im goethischen sinne »antikisch« sind: schöpfungen, entsprungen aus der verbindung und dem idealen gleichmaß von abstraktion, messung, gesetz einerseits, andrerseits aus natur, gefühl, idee. eine ausstellung »der schöne mensch« wird bedacht sein müssen, den menschen als produkt der kunst aufzuzeigen, das mit den mitteln der kunst aus form und farbe geschaffene gleichnis, das eine sonderwelt repräsentiert, unvergleichbar dem bloß fotografie- oder bloß naturschönen. die »wege zu kraft und schönheit« sind nicht zugleich auch die »wege zur kunst«, aber sie können sich in einem glücklichen schnittpunkt treffen und zur einheit werden. OSKAR SCHLEMMER | Brief an Willi Baumeister, 1929

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