185 einen Kuss auf die Kühlernase zu geben, bevor man ihn nachts allein in der Garage zurückließ. Die motorisierte Frau winkte von zahlreichen Illustriertentiteln und aus Anzeigenmotiven dem Publikum zu und machte nebenbei schmerzhaft deutlich, dass diese Art der Emanzipation auch eine Klassenfrage berührte: Die »Neue Frau« war mit Vorliebe vermögend. Solange es mit der Wirtschaft aufwärts ging und die vielen Verkäuferinnen und Stenotypistinnen vom baldigen Aufstieg träumen konnten, war der Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit noch kein großes Problem. Aber wenn der damals berühmte Theaterunternehmer Karl Vollmoeller noch 1932, mitten in der Weltwirtschaftskrise, im Querschnitt behauptete: »Telefon und Auto sind momentan sekundäre Geschlechtsmerkmale des jungen Mädchens«,2 nahm er die Welt der Schönen und Reichen fürs Ganze und machte unfreiwillig deutlich, woran schon die »Roaring Twenties« gelitten hatten: an Ignoranz. Wer auch mit wenig Geld bei dem rasanten Tempo mithalten wollte, musste stark und flink wie ein Wiesel sein. Die Angestellten der 20er-Jahre waren auch aus Gründen eines verinnerlichten Wettbewerbs um die besten Aufstiegschancen vom Ideal des gut trainierten Körpers besessen. Schlank musste man sein, drahtig und reaktionsschnell. Die androgyne Silhouette kam in Mode. Üppige Rundungen, im Kaiserreich der Stolz fast jeder Frau, wurden wegtrainiert oder durch Brustbinden kaschiert. Auch der korpulente Mann sah sich genötigt, den dicken Bauch, den er vor dem Krieg noch stolz »embonpoint« genannt hatte, mittels einer Leibbinde diskret wegzudrücken. Die gemütlich schmauchende Honoratiorenseligkeit war zur Zielscheibe beißenden Spotts geworden; George Grosz zeichnete seine verhassten Spießer mit Vorliebe stiernackig. Schlankheit wurde zum Ideal auf allen Gebieten, nicht nur in der Mode, sondern auch in der Baukunst und in der Stadtplanung. Für Martin Wagner, Berliner Stadtbaurat seit 1926, ein früher Verfechter der autogerechten Stadt, war die City eine »effiziente Maschine für Arbeit und Wohlleben«, in der aufgeplusterter wilhelminischer Zierrat nichts zu suchen habe. »Die moderne Masse«, schrieb er, »will fettlos in Erscheinung treten, wie ein Flugzeug, ein D-Zug-Lokomotive, ein Motor«.3 Funktionell, schlank, flink – diesem Ideal hatte sich alles zu fügen. Wege zu Kraft und Schönheit hieß ein 1925 in die Kinos gekommener Film, der in überwältigenden Choreografien die gestählten Leiber inszenierte, die 4 Nackte Männer beim Kugelwerfen Filmstill aus Wege zu Kraft und Schönheit 1925
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