Leseprobe

KALEIDOSKOP DER MODERNE 1 EGON SCHIELE Kauerndes Menschenpaar (Die Familie) 1918 Selten in der Geistes- und Kulturgeschichte ist ein einzelnes Jahrzehnt vom Nachruhm so verwöhnt worden wie die 1920er-Jahre. Diese relativ kurze Zeitspanne, die als Kernepoche und Experimentierfeld der westlichen Moderne gilt, wurde in den letzten Jahren nicht nur Gegenstand mehrerer facettenreicher Gesamtanalysen; inzwischen kann fast jedes einzelne Jahr stolz seine eigene »Biografie« vorweisen. Es sind die Sternschnuppen eines vermeintlich goldenen Zeitalters, dessen Mythos sich vor allem aus den Hoffnungen auf eine bessere Zukunft speist, die rund um den Globus ihre unterschiedlichen Ausprägungen erfuhren. Niemals zuvor hatte man das Gefühl, dass der Erdball – durch die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, der Pandemie der Spanischen Grippe und dank des technischen Fortschritts – auf ein überschaubares Maß geschrumpft sei. Der Hunger der jungen Generation nach dem Neuen und die erstaunliche Talentfülle dieser Epoche setzten enorme kreative Potenziale frei. Geschwindigkeit, Technisierung, globale Vernetzung, neue Rollenbilder von Frau und Mann, urbane Utopien bestimmten den Takt des Jahrzehnts, auch wenn dessen Kehrseite von Zersplitterung und Ohnmacht geprägt war. In ihrer Suche nach Orientierung fühlten sich die Menschen zwischen traditionellen Denkmustern und modernen Herausforderungen hin- und hergerissen. Die Dichte all dieser Phänomene bewirkt, dass diese Zeit wie ein Schaufenster mehrerer Epochen wirkt. Die Gleichzeitigkeit und Radikalität dieser Ereignisse verleihen ihnen auch noch 100 Jahre später eine bemerkenswerte Aktualität und inspirierten uns zu dieser Ausstellung.

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