15 Wir widerstanden der Versuchung, uns auf die wilden, verrückten, »Goldenen Zwanziger« zu konzentrieren, die bereits lange vor dem furiosen Erfolg der Fernsehserie Babylon Berlin das (Wunsch-)Bild dieser Zeit und den Fokus zahlreicher Ausstellungen bestimmten. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stand von Beginn an eine Welt im Rausch des kollektiven Aufbruchs, eine Welt, der ein einheitliches Koordinatensystem abhanden gekommen war und die sich neu erfinden musste. Die 1920er-Jahre haben die alte Illusion von einer einheitlichen Wahrnehmung der Welt und des Lebens hinter sich gelassen. Ein Blick auf die Landkarte Europas vor und nach dem Ersten Weltkrieg führt diesen Paradigmenwechsel vor Augen: 1914 beherrschen neben den Flächenländern Frankreich, Spanien und Großbritannien vor allem die Kaiserreiche Österreich-Ungarn, Russland und Deutschland den politischen und geografischen Raum. Vier Jahre später – nach Kriegsende und Zerfall multikultureller Großmächte – ist Europa nicht wiederzuerkennen. Ein bunter Flickenteppich neu entstandener Nationalstaaten überzieht den Kontinent von Nord nach Süd und von Ost nach West. Mit den Neugründungen ging nicht nur eine Fokussierung auf die einzelnen nationalen Identitäten einher, sondern auch das Bedürfnis nach neuen politischen und kulturellen Repräsentationsformen. Paradoxerweise – und der voranschreitenden Globalisierung zum Trotz – übertrug sich die Fragmentierung der Welt(-sicht) auf alle Lebens- und Tätigkeitsfelder der Menschen. Unter dieser Prämisse entstand die Erzählstruktur dieser Ausstellung. Sie konzentriert sich auf drei elementare Parameter, die über alle Landesgrenzen, Kunstismen und Zeithorizonte hinweg ihre Gültigkeit behalten: Metropolen, Menschenbilder und Lebenswelten. Es sind universelle Phänomene, die von den Besucher*innen intuitiv erfasst werden können und ihnen eine Reflexionsgrundlage über ihre eigene Zeit anbieten. Kaleidoskopartig fügen sich die im offenen Ausstellungsparcour aufgefächerten Themenschwerpunkte zu immer neuen Konstellationen zusammen, die in ihrem Facettenreichtum und ihren exemplarischen Vertiefungen ein vielschichtiges Epochenbild ergeben. Ein Jahrzehnt, möge es auch noch so schillernd sein, ist nur ein Bruchstück eines größeren Zusammenhangs, das man aus der historischen Kontinuität nicht herauslösen kann. Die unendliche Fülle von Neuerungen, die den 1920er-Jahren ihre Atemlosigkeit verliehen, ist nicht allein der damals herrschenden Aufbruchstimmung zu verdanken. Zahlreiche Entwicklungen in Kunst, Wissenschaft und Technik nahmen bereits vor 1900 Fahrt auf und konnten erst jetzt, durch eine immense Beschleunigung und internationale Verknüpfungen, zu einem Höhepunkt gelangen, ja überhaupt erst sichtbar werden. Die Aktivitäten der internationalen Kunstavantgarden spiegelten diese Entwicklungen wider. Dennoch stellten die allgegenwärtigen Verwüstungen des Ersten Weltkriegs, die Wirren der russischen Oktoberrevolution sowie der Aderlass infolge der Spanischen Grippe eine folgenschwere Zäsur dar. Neue Protagonisten betraten die Bühne, die Helden von einst gerieten ins Abseits. Zu den tragischen Verlierern der Geschichte gehörte der skandalumwitterte Shootingstar der österreichischen Moderne Egon Schiele, der am 31. Oktober 1918 mit nur 28 Jahren der Spanischen Grippe erlag. Sein letztes Gemälde, Die Familie, veranschaulicht seinen Ansatz, traditionelle Themen neu zu verhandeln, und ist gleichzeitig ein berührendes Zeugnis seiner persönlichen wie auch der globalen Tragödie. Schiele projizierte auf die Leinwand das von ihm herbeigesehnte und doch nie gelebte Familienidyll: Seine schwangere Frau Edith starb drei Tage vor ihm an der Grippe und nahm das ungeborene Kind mit in den Tod… Edvard Munch, vor dem Krieg einer der einflussreichsten Pioniere moderner Kunst, hatte mehr Glück. Er überlebte die tückische Krankheit. Das Selbstporträt von 1919 zeigt ihn von der Grippe gezeichnet, ein Mann in seinen frühen Fünfzigern, vorzeitig gealtert, dessen vitale Schaffenskraft erloschen scheint. Tatsächlich hatte er sich seit den 1920er-Jahren aus dem aktiven Kunstbetrieb immer mehr zurückgezogen, um nach 1933 von den deutschen Nationalsozialisten zunächst als großer »nordischer Künstler« gefeiert und schließlich als »entartet« diffamiert zu werden. Beide Schlüsselfiguren der Vorkriegsmoderne, denen die expressionistischen Richtungen entscheidende Impulse verdanken, wurden unerwartet zu Repräsentanten einer »Welt von gestern«, der Arnold Zweig mit seinem gleichnamigen Erinnerungsbuch ein ambivalentes Denkmal setzte. 2 EDVARD MUNCH Selbstporträt nach Spanischer Grippe 1919
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