16 Metropolen Aus dem Zerfall der alten Ordnung nahmen sich die Jungen das Recht, ihre eigenen neuen Wertmaßstäbe zu bilden. Für sie markierte diese Zeitenscheide kein Ende, sondern einen Beginn. Sie richteten ihren scharfen Blick auf aktuelle Themen und pulsierende Orte des Geschehens. Obwohl der überwiegende Großteil der europäischen Bevölkerung auf dem Land unter teilweise archaisch anmutenden Verhältnissen lebte, war es doch die zunehmende Verstädterung mit all ihren positiven wie negativen Auswirkungen, die den 1920er-Jahren ihren Stempel aufdrückte. Die Metropolen boten den Künstler*innen eine unerschöpfliche Inspirationsquelle sowie eine medien- und publikumswirksame Bühne für ihre Kunst. In den Stadtdarstellungen der zeitgenössischen Künstler*innen und Fotograf*innen erscheint die urbane Umgebung als Biotop, Experimentierfeld und gleichzeitig als Zerrbild der Moderne. Die moderne Architektur veränderte das Gesicht der Städte und entwickelte ein neues Vokabular, dessen Ursprung in der modernen Technik wie auch in den ästhetischen Konzeptionen der jungen urbanen Avantgarden lag. Deren utopischen Stadtentwürfe waren Ausdruck einer einer künstlerischen Zukunftsvision, die durch die Postulate einer neuen Gesellschaft befeuert wurde. Dass die Geschichte einen anderen Verlauf nahm, offenbart die Kluft zwischen dem utopischen Streben nach einer neuen besseren Welt und der brutalen politischen Realität in Europa. Die traditionellen Kulturmetropolen Paris, München, Wien und St. Petersburg hatten nichts von ihrer Strahlkraft verloren, auch wenn sie in Gestalt junger aufstrebender Kunstzentren wie Prag, Berlin, Witebsk, London, Shanghai und Mexico City Konkurrenz bekamen. Fern jedweder Konkurrenz entwickelte sich New York in den 1920er-Jahren zur ersten multiethnischen globalen Megacity. Im Zuge der Großen Migration der afroamerikanischen Bevölkerung in die Städte des Nordens wurde der New Yorker Stadtteil Harlem zur größten schwarzen Community der Welt und zum Ausgangspunkt der Emanzipationsbewegung der Harlem-Renaissance. Hier regierte der Jazz, von hier aus eroberten Ausnahmekünstler*innen wie Josephine Baker, Duke Ellington und Louis Armstrong die Bühnen Europas. Die afroamerikanische Jazzmusik entwickelte sich zu einem Exportschlager, der den USA im transatlantischen Kulturschuttle zum ersten Mal einen Vorteil verschaffte. Menschenbilder Die Gesellschaften der »Goldenen Zwanziger« waren zutiefst gespalten. Die veränderten Rahmenbedingungen prägten die Menschen und damit auch das neue Menschenbild, das der Malerei eine Renaissance der Porträtkunst bescherte. Politisch engagierte Künstler*innen wandten sich den »Abgehängten« zu, die jenseits urbaner Glitzerwelten der tristen Realität der Hinterhöfe und der Monotonie der Fabrikarbeit zu entkommen suchten. Die Industrialisierung trug zu einem neuen Körperverständnis bei und interpretierte den Organismus durch technologische Metaphern. Doch die wichtigsten Pole des neuen gesellschaftlichen Systems, das sich in der Kunst spiegelte, waren SIE und ER. Die Sensation der 1920er-Jahre hieß »Neue Frau«, und es war unangefochten ihr Jahrzehnt. Die Einführung des Frauenwahlrechts (Finnland machte in Europa den Anfang 1907, 1984 folgte Lichtenstein als letztes europäisches Land), wirtschaftliche Selbstständigkeit und soziale Emanzipation bildeten die Grundlagen für ein neues Selbstbewusstsein und neue bildliche Repräsentationsformen der Frauen. Es war die Neue Frau, die als Hauptadressatin von Auto- und Zigarettenwerbung angesprochen wurde, die Mode- und Kosmetikbranche entdeckte die lebenshungrigen Working Girls als unersättliche Konsumentinnen, und die Vergnügungsindustrie profitierte von der weiblichen Lust auf Freiheit und Abenteuer. Eine einflussreiche Verbündete im mühsamen Prozess der Selbstermächtigung fand die Neue Frau in der Mode. Eine durch Tanz und Sport gestählte schlanke Silhouette wurde zu ihrem Markenzeichen ebenso wie der kurze Rock und die burschikose Modefrisur à la Garçonne. Sie verhalf Chanels »kleinem Schwarzen« zum transkontinentalen Siegeszug und irritierte ihre männliche Umwelt mit androgynem Chic. Neben professionellen Couturiers sind es die Künstler*innen, die mit ihren Kreationen die Synthese aus Kunst und Leben in den Dienst der Emanzipation stellten. Wie kaum eine Zeit davor pflegten die 1920er-Jahre eine lustvolle Entschlossenheit, hergebrachte Ordnungen infrage zu stellen und Tabus zu brechen, vor allem, wenn diese Sexualität und Sexualmoral betrafen. Menschen entwickelten eine freiere Einstellung zur Sexualität und gleichgeschlechtlichen Liebe. In Berlin, wo es die freizügigste Schwulenszene Europas gab, wurde mit dem weltweit ersten Institut für Sexualwissenschaft eine Anlaufstelle für Hilfe suchende Menschen aller Geschlechter etabliert. Die neue Sichtbarkeit diverser sexueller Identitäten fand sich auch in der Kunst wieder. 3 Die Journalistin Ruth Landshoff-Yorck 1927
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