17 Lebenswelten Die 1920er-Jahre werden oft als Vorhut der Zweiten industriellen Revolution bezeichnet, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit voller Wucht einsetzte und unseren Alltag bis heute prägt. Der ambivalente Technikkult dieser Zeit hatte seine Schattenseiten in der todbringenden Kriegsmaschinerie zwischen 1914 und 1918 offenbart, was Kunst und Literatur schonungslos protokollierten. Die fortschreitende Mechanisierung der Lebens- und Produktionsverhältnisse manifestierte sich in dem ambivalenten Traum einer zukunftsträchtigen Fusion von Mensch und Maschine. Gleichzeitig entwickelten das Bauhaus sowie international agierende Designer*innen eine neue industrielle Ästhetik der Wohnkultur und der Gegenstände des täglichen Bedarfs, die heute Kult sind. Die Menschen der 1920er-Jahre schienen von ihren Körpern geradezu besessen zu sein. Das Bewusstsein, als Teil einer anonymen Massengesellschaft funktionieren zu müssen, weckte den Wunsch nach individueller Körperoptimierung, die mittels ästhetischer Chirurgie und sportlicher Aktivitäten erreicht werden sollte. Der Sport entwickelte sich zu einem Massenphänomen, erfolgreiche Athleten wurden als Stars verehrt, spektakuläre Erfolge frenetisch gefeiert. Die Kunst reagierte darauf mit einer breiten Palette von Darstellungen, die zwischen menschlichen Idealkörpern und der technoiden Ästhetik von Automaten changieren. Damit einher ging die obsessive Jagd nach Rekorden in allen Disziplinen – Automobil und Luftfahrt wurden zu Symbolen einer Zeit im Rausch der Geschwindigkeit. Diese Welt im Umbruch wird von einer ungebremsten Bilderflut begleitet. Kleinbildkamera, Fotojournalismus, deren Einsatz in der Werbung und in diversen Medien begründen die Omnipräsenz der Fotografie in der Öffentlichkeit. Gleichzeitig wird ihr im edukativen Avantgardeprogramm des »Neuen Sehens« eine Schlüsselrolle zugewiesen. Radio und Kino entwickeln sich vom Status eines technischen Wunders zu fest im Alltag der Menschen verankerten, äußerst einflussreichen Massenmedien. Die Ausstellung greift diese Phänomene auf, indem sie ihre Themenschwerpunkte durch eine konstante Präsenz von Fotografie und Film noch stärker an ihre Entstehungszeit bindet. Die vorliegende Begleitpublikation folgt der Ausstellungsstruktur und bietet gleichzeitig ein polyphones Zeitpanorama, in dem Kunst und Fotografie, Bild und Text in einen fruchtbaren Dialog treten. Es ist ein Glücksfall, dass sich die exzellenten Kenner*innen der Materie Philipp Blom, Harald Jähner, Änne Söll, Jens Wietschorke und Lukas Bächer auf dieses Konzept eingelassen haben und bereit waren, fundierte Inhalte mit leichter Feder zu vermitteln. Dramaturgisch werden hier zwei Erzählstränge miteinander verwoben – die Kernaussagen der Einführungstexte spiegeln sich in den anschließenden Bildessays wieder. Die großzügig angelegten Fotostrecken mit Originalzitaten aus den 1920er-Jahren sowie kurzen Bildtexten entwickeln ein narratives Eigenleben und bleiben doch integrale Bestandsteile des großen Gefüges. Beim Verfassen der erweiterten Bildunterschriften war es mir ein Anliegen, weniger eine kunsthistorische Bildanalyse zu leisten, als vielmehr den Entstehungskontext der Darstellungen zu beleuchten und den Zeitgeist der Epoche zu erfassen. Die attraktive grafische Gestaltung der Publikation verleiht ihr den Charakter einer lebendigen Epochenanthologie, die den Leser*innen hoffentlich eine erhellende wie kurzweilige Lektüre bietet. Dabei greift sie die Idee des Kaleidoskops als ein bewährtes Instrument zur Weltbetrachtung wie zur Weltverzauberung mit beiläufiger Selbstverständlichkeit auf. AGNIESZKA LULIŃSKA Kuratorin der Ausstellung
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