Leseprobe

26 / 27 So setzte sich in den Jahrzehnten nach Kriegsende eine einseitige Betonung von Noldes Opferstatus im Nationalsozialismus durch. Nolde selbst hatte an dieser Erzählung maßgeblichen Anteil. Seine handschriftlichen Vorarbeiten zum Memoirenband Reisen, Ächtung, Befreiung veranschaulichen die Entwicklung und Dramatisierung des eigenen Verfolgungsnarrativs. So dichtete er zum Beispiel den Besuch eines kunstliebenden Gestapo-Beamten im Winter 1940/41 – also vor Verhängung seines Berufsverbots – zu einem angeblichen Gestapo-Kontrollbesuch um.10 Nach Noldes Tod 1956 verfestigte sich die Erzählung des verfolgten Künstlers, während Verweise auf seine Sympathien zum Nationalsozialismus und auf seinen Antisemitismus nach Möglichkeit entfernt wurden. So wurden 1958 in der Neupublikation von Jahre der Kämpfe verschiedene antisemitische Passagen gestrichen. Bei der Publikation von Noldes Memoiren über seine Ozeanien-Reise, Welt und Heimat, 1965, und seiner Darstellung der Jahre des Nationalsozialismus, Reisen, Ächtung, Befreiung (Abb. 7), die zum 100. Geburtstag des Künstlers 1967 erschien, nahm der damalige Stiftungsdirektor Joachim von Lepel zusammen mit dem Verlag DuMont Schauberg eine Reihe von inhaltlichen Änderungen vor, um »gewisse Stellen, die durch die geschichtliche Entwicklung überholt wurden […] zu eliminieren«.11 Öffentliche Verbreitung fand der so entstandene Nolde-Mythos nicht zuletzt durch die literarische Bearbeitung in dem Roman Deutschstunde (1968) von Siegfried Lenz, der Noldes Berufsverbot überformte. Der Roman trug dazu bei, dass Nolde endgültig zur Personifizierung eines verfolgten Künstlers der Moderne im Widerstand gegen die NSDiktatur wurde. Eine wirkungsmächtige Erzählung: die Ungemalten Bilder Noldes Ungemalte Bilder sind ein zentraler Mythos, der sich ebenfalls im Laufe der 1960er-Jahre verfestigt hatte und der aufs Engste mit dem bereits geschilderten Narrativ von Verfolgung und innerem Widerstand verknüpft ist. Nolde erfand in seinen Memoiren Reisen, Ächtung, Befreiung für seine kleinen Ungemalten Bilder – kleinformatige Aquarelle, die erst nachträglich als Werkgruppe zusammengefasst wurden – die Erzählung, sie seien während des »Malverbots«, »heimlich«, in einem »kleinen halbversteckten Zimmer« entstanden.12 Einige Jahre nach Noldes Tod, ausgerechnet zu der Zeit der zunehmenden öffentlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Judenmord, wurde die Erzählung des ungebrochen kreativ schaffenden, widerständigen Künstlers in die Öffentlichkeit getragen. Wie kam es zur erfolgreichen Verbreitung dieser Erzählung, auf die Ausstellungen bis vor Kurzem noch verwiesen? Die von Emil und Ada Nolde testamentarisch begründete Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde beauftragte den Kunsthistoriker Werner Haftmann – später erster Direktor der Neuen Nationalgalerie, Berlin –, für einen Bildband Begleittexte zu verfassen. In seiner Publikation Emil Nolde von 1958 führte Haftmann Noldes Selbsterzählung wortgewaltig aus und popularisierte dabei auch die (bisher unveröffentlichte) The artist’s autobiographical writings along with his other correspondence, and the contributions in the exhibition catalog impressively trace how Nolde’s complex role in National Socialism was transformed into a heroic narrative after the war through omissions and additions—with the participation of several art historians and acquaintances from the artist’s circle.9 The artist served as a projection surface for West German postwar society, which needed identification figures and a ‘good’ modernism for its cultural reconstruction. As a result, a one-sided emphasis on Nolde’s victim status in the National Socialism prevailed in the decades following the end of the war. Nolde himself played an essential role in this story. His handwritten preparatory works for the memoir volume Travel, Ostracism, Liberation illustrate the development and dramatization of his own narrative of persecution. For example, he recast the visit of an art-loving Gestapo official in the winter of 1940/41—before the imposition of his occupational ban—into an alleged Gestapo inspection visit.10 After Nolde’s death in 1956, the narrative of the persecuted artist solidified, while references to his sympathies with National Socialism and to his anti-Semitism were eliminated whenever possible. For example, in 1958, various anti-Semitic passages were deleted from the republication of Years of Struggle. While publishing Nolde’s Oceania voyage memoirs, World and Homeland, 1965, and his account of the years of National Socialism, Travels, Ostracism, Liberation (which appeared on the occasion of the artist’s 100th birthday in 1967), the then director of the Nolde Foundation, Joachim von Lepel, together with the publisher DuMont Schauberg, made several changes to the content in order to “eliminate ... certain passages that had been made obsolete by historical developments.”11 Thus the Nolde myth was disseminated to the public, not least through the literary treatment in the novel The German Lesson (1968) by Siegfried Lenz, which reshaped Nolde’s occupational ban. The novel contributed to Nolde finally becoming the personification of a persecuted modernist artist in resistance to the Nazi dictatorship.

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