22 Lia Bertram, Andreas Schulze, Tino Simon Aktuelle Forschungen zur spätmittelalterlichen Ausstattung des Freiberger Doms St. Marien einen und der Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung auf der anderen Seite bisher eher selten und erst in jüngster Zeit verstärkt zeitgleich und auf Augenhöhe direkt am Objekt zusammenarbeiten und die gewonnenen Erkenntnisse im interdisziplinären Diskurs gemeinsam analysieren, zueinander in Beziehung setzen und bewerten. Der Forschungsansatz des hier vorgestellten Projektes hatte deshalb, wie bereits erwähnt, die systematische und objektive Erfassung der Objekte nach kunsttechnologischen und kunsthistorischen Gesichtspunkten zum Ziel, nicht jedoch das Bestätigen oder Widerlegen bereits existierender Thesen etwa zur Urheberschaft einzelner Stücke. Nur so lassen sich nach übereinstimmender Auffassung aller an diesem Projekt Beteiligten Schwächen anderer, ähnlich gelagerter Forschungsprojekte vermeiden und eine wissenschaftlich wirklich fundierte Basis für zukünftige vergleichende Untersuchungen des Bestandes legen. Das Fernziel besteht in der Erarbeitung eines Korpuswerkes zu dieser Objektgruppe für Sachsen, welches neben einem Gesamtüberblick unter anderem auch detaillierte Quervergleiche zwischen den einzelnen Kunstwerken und letztendlich, über die Identifizierung individueller künstlerischer und handwerklicher Schaffensgewohnheiten, auch zuverlässigere Schlussfolgerungen zu Werkstattzusammenhängen oder gar Zuschreibungen an einzelne Meister, zu den organisatorischen Details sowie den engen wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen mit benachbarten Regionen im Spätmittelalter erlauben würde. Für die Realisierung des ersten kleinen Schrittes auf dem Weg zu einer flächendeckenden Erfassung im Freistaat Sachsen war es nach vergeblichen Projektanträgen auf nationaler Ebene ein außerordentlich glücklicher Umstand, dass der stellvertretende Landeskonservator Michael Kirsten im Januar 2015 eine Anfrage tschechischer Kollegen von der Regionsbehörde Usti nad Labem (Aussig/Tschechien) weiterleitete, die nach einer sächsischen Partnerinstitution für ein grenzüberschreitendes Forschungsprojekt zur spätmittelalterlichen Retabelkunst im Rahmen des vom »Europäischen Fonds für regionale Entwicklung EFRE« ins Leben gerufenen »Kooperationsprogramms zur Förderung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit zwischen dem Freistaat Sachsen und der Tschechischen Republik 2014–2020« suchten. Daraus entwickelte sich in der Folgezeit eine intensive, vertrauensvolle und auch äußerst angenehme Zusammenarbeit mit den tschechischen Projektpartnern, die als sogenannter Leadpartner dankenswerter Weise auch die administrative Hauptlast bei der Beantragung und Umsetzung des Projektes übernahmen. Angesichts des regionalen Förderschwerpunktes dieses Kooperationsprogrammes lag es nahe, für die Untersuchungen die Einführung Am 30. Juni 2021 konnte das sächsisch-tschechische Forschungsprojekt »Spätmittelalterliche Kunst in der Montanregion Erzgebirge« erfolgreich abgeschlossen werden, in welchem die Regionsbehörde Usti nad Labem (Aussig/Tschechien) und das Regionalmuseum und die Galerie in Most (Brüx/ Tschechien) über mehr als drei Jahre lang sehr intensiv mit dem Studiengang für Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung von Kunst- und Kulturgut an der Hochschule für Bildende Künste Dresden (HfBK Dresden) kooperierten.1 Die Grundidee für ein solches Forschungsprojekt wurde bereits vor vielen Jahren unter Ulrich Schießl2 gemeinsam mit Wissenschaftlern des damaligen Geisteswissenschaftlichen Zentrums für die Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig3 und der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) sowie weiteren Fachkolleginnen und -kollegen geboren, im Sommer 2013 wieder aufgenommen und in der Folgezeit in enger Zusammenarbeit vieler Beteiligter inhaltlich und organisatorisch weiter fortentwickelt und konkretisiert. Ziel ist dabei die systematische und interdisziplinär angelegte Erfassung, Untersuchung und Dokumentation des Gesamtbestandes an vorreformatorischen Retabeln, Skulpturenzyklen und Einzelskulpturen aus Holz sowie Tafelbildern in Sachsen, sowohl unter kunsthistorischen als auch kunsttechnologischen Blickwinkeln. Denn obwohl die Reformation lutherischer Prägung 1527 zunächst im ernestinischen und 1539 auch im albertinischen Sachsen offiziell eingeführt wurde, haben sich auf deren ehemaligem Territorium besonders viele Kunstwerke aus katholischer Zeit erhalten. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass Martin Luther – im Gegensatz zu anderen Reformatoren – den Bildersturm, also die gezielte Vernichtung sakralen Kunstgutes aus religiösen Gründen, ausdrücklich ablehnte. Aber trotz dieses Reichtums an noch erhaltenen materiellen Sachzeugen jener Epoche in unserem Land hat sich die kunsthistorische Forschung bislang noch nie systematisch diesem Bestand in seiner Gesamtheit und Vollständigkeit angenommen, auch wenn etwa von Kunsthistorikern oder Restauratoren wie Eduard Flechsig, Wilhelm Junius, Walter Hentschel, Ingo Sandner und Arndt Kiesewetter umfangreiche und wichtige Untersuchungsergebnisse zu Teilbereichen dieser Objektgruppe und darüber hinaus auch zahlreiche Publikationen4 zu Einzelobjekten oder Künstlerpersönlichkeiten vorliegen. Zudem konzentrierten sich die Forschungen bislang vorrangig auf stilkritische Aspekte und Archivstudien, während kunsttechnologische und objektgeschichtliche Befunde seltener Berücksichtigung fanden. Dies liegt sicherlich daran, dass die beiden Wissenschaftsdisziplinen der Kunstgeschichte auf der
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