110 2 LAV INIA FONTANA (BOLOGNA 1552 – 1614 ROM) Die Heilige Familie um 1575 Öl auf Rotbuchenholz 39,5 × 32 cm Bezeichnung: signiert unten rechts: »[LAV]INIA PROS[P]ERI FONTANÆ« Provenienz: spätestens 1750 aus der Sammlung des Abate Alessandro Branchetta in Bologna für den sächsischen Kurfürsten Friedrich August II., als König von Polen August III., erworben; von 1945 bis 1955 in der UdSSR (Kiew); Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 121 Literatur: Kat. Dresden 1765, GI 215; Fortunati 1986, Bd. 2, S. 736; Cantaro 1989, S. 64 f.; Kat. Dresden 2006/07, Bd. 2, S. 255; Speranza 2016, S. 19, Henning 2023. Diese Holztafel gilt als eine der frühesten überlieferten Arbeiten von Lavinia Fontana. Ausgebildet von ihremVater, dem Bologneser Maler Prospero Fontana, schuf sie anfangs kleinformatige Andachtsbilder, die vor allem im privaten Bereich genutzt wurden und der Kontemplation dienten. Später übernahm Lavinia mangels männlicher Erben denWerkstattbetrieb, nachdem ihr Vater aufgrund einer Erkrankung die Arbeit nicht mehr fortsetzen konnte. Sie gilt als die erste Künstlerin der frühen Neuzeit in Europa, die unabhängig und selbstbestimmt arbeitete.1 1577 schuf sie anlässlich ihrer Verlobung mit Giovan Paolo Zappi aus Imola, den sie im gleichen Jahr heiratete, ihr repräsentatives Selbstbildnis am Virginal (Abb. 1, S. 28).2 Ihr Mann unterstützte sie im geschäftlichen Bereich, und abMitte der 1580er Jahre avancierte sie zu einer gefragten Porträtistin des Bologneser Adels. Fontanas Dresdner Andachtstafel besticht durch eine eigenwillige Komposition des tradierten Motivs der Heiligen Familie. Josef ist als Rückenfigur im verlorenen Profil wiedergegeben und betritt über ein Steinpodest den Raum, in dem sich Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß, der kleine Johannes der Täufer und dessen Mutter Elisabeth befinden. Trotz der Nähe der Figuren zueinander ist eine deutliche Tiefenstaffelung vom linken Vordergrund nach rechts in den Bildhintergrund zu erkennen, die die Künstlerin sowohl durch die perspektivische Anlage des Fußbodens und der Architektur als auch durch das Wechselspiel von Hell-Dunkel erreicht. Die deutlich ältere Elisabeth als hinterste Figur ist imSchatten wiedergegeben, während die Gruppe der jungen Gottesmutter mit den beiden Kindern durch die Lichtakzentuierung hervorgehoben wird. Als Repoussoirfigur führt Josef uns von der realen Welt in die des Bildes. Mit ihm überschreiten wir zugleich die Grenze unserer (weltlichen) Erfahrung und treten in die religiöse Sphäre ein. Josef trägt ein weißes Gewand, das in der Liturgie die Teilnahme am Göttlichen symbolisiert, und leitet uns zu einer transzendenten Erfahrung an. Lavinia verleiht der heilsgeschichtlichen Botschaft dieser Szene eine intime und menschliche Dimension. Emotionale, familiär wirkende Motive, verbunden mit einer direkten Ansprache der Betrachtenden sowie einer anmutigen malerischen Umsetzung finden sich bereits in diesem Frühwerk der Künstlerin. Die beiden Kinder umarmen sich, dabei umspielt ein Lächeln den Mund des Christuskinds, während Maria ihn liebevoll festhält. Derartige Gesten, Bewegungen und Handlungen, die dem Verhalten von Kindern und Müttern ähneln, verstärken die Glaubwürdigkeit der Darstellung. Damit entspricht diese Tafel den Anforderungen der gegenreformatorischen Bewegung ab Mitte des 16. Jahrhunderts, die einen bedeutenden Einfluss auf die Kunstproduktion hatte. Die Beschlüsse des Tridentinischen Konzils waren eine theologische Auseinandersetzung und Reaktion der katholischen Kirche auf die protestantische Bewegung, die auch den Umgang mit religiöser Malerei betraf. Religiöse Themen sollten klar, verständlich und angemessen umgesetzt werden, um die Gläubigen anzuleiten. Dementsprechend waren pagane von christlichen Motiven zu trennen – eine Absage an die Antike und die an ihr geschulte klassische Bildsprache der Renaissance, die aber zu neuen Errungenschaften führte – nämlich zu einer sinnlichen und emotionalen Malerei, welche die Gefühle der Gläubigen anspricht. Lavinia verwendet keine strenge Dreieckskomposition, die in der Renaissance zur Darstellung religiöser Inhalte häufig genutzt wurde, sondern verteilt die Figuren imBildraum gemäß der Proportionsregel des Goldenen Schnitts. Dadurch gelingt es der Künstlerin trotz des diagonal nach hinten verlaufenden Aufbaus der Tafel, die Komposition zu ordnen und zu stabilisieren. Die malerische Qualität des Bildes ist anhand der Ausführung der Figuren nachvollziehbar. | I R I S YVONNE WAGNER 1 Vgl. den Beitrag von Aoife Brady in diesem Band, S. 25–41. 2 Vgl. King 1995, S. 392.
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