Leseprobe

24 bislang nicht eindeutig beantwortet werden.10 Ein gesichertes Datum liefert jedoch ein Brief Christian Coles, der sich ab 1707 als Sekretär des britischen Botschafters Lord Manchester in Venedig aufhielt. Das Schreiben bestätigt, dass sie spätestens 1704 damit begonnen hatte, sich der Pastellmalerei zu widmen.11 Für den Verkauf sowohl ihrer Miniaturen als auch ihrer Pastelle wusste sie geschickt den unermesslichen Strom Reisender zu nutzen, die es nach Venedig drängte. Es wird geschätzt, dass sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts bis zu 30000 Besucher pro Jahr in der Stadt aufhielten, um die einzigartige Topografie, Opern- und Konzertbesuche, den Karneval, Kurtisanen, das Glücksspiel oder sonstige Vergnügungen zu genießen, für die Venedig berühmt war.12 Für nordeuropäische Reisende, die auf ihrer Grand Tour Italien besuchten, bedeutete ein Abstecher in Carrieras Atelier bald einen obligatorischen Halt auf ihrer Reise, wo sie deren Werke direkt vor Ort bestellen und in ihrem Gepäck nach Hause bringen konnten. In England wurde die Malerin so bekannt, dass auch nicht authentische Bilder als Werke von »Roselby« angeboten wurden.13 Doch auch ihre weit gestreuten Beziehungen zu Kunstliebhabern und Sammlern in Nordeuropa, die sie über den Postweg oder mithilfe von Kurieren mit ihren Werken versorgte, waren wichtiger Bestandteil ihres beruflichenWerdegangs. Dabei sei in erster Linie der Hof in Dresden genannt, der unter August demStarken begann, eine Pastellsammlung aufzubauen, die August III. weiter ausbaute. Carrieras enormer Erfolg resultierte schließlich darin, die Pastellmalerei in ganz Europa bekannt und beliebt zu machen. Neben dem Begehren, ein Werk von Carriera zu besitzen, wuchs international der Wunsch, die berühmte Malerin am eigenen Hof zu verpflichten. In Düsseldorf etwa waren es Johann Wilhelm von der Pfalz und seine zweite Frau Anna Maria Luisa de’ Medici, die als Gönner auftraten und Carriera 1710 einluden, für sie zu arbeiten. Der Kurfürst hatte bereits zahlreiche Künstler und Musiker aus Italien engagiert und bewusst ein italienisches Klima an seinem Hof geschaffen, doch weder sein Sekretär und Agent in Venedig, Giorgio Maria Rapparini, noch die Aussicht darauf, sich unter anderen Italienern sicher wohl zu fühlen und darüber hinaus die Blumenmalerin Rachel Ruysch kennenlernen zu können, konnten die Malerin dazu bringen, die schmeichelhafte Einladung anzunehmen.14 Sie hatte es dank ihrer zahlreichen Kundschaft nicht nötig, sich in Abhängigkeit eines Mäzens begeben und sich andernorts verdingen zu müssen. So zog sie es für die gesamte erste Hälfte ihres Lebens vor, am Canal Grande zu bleiben und von zu Hause aus zu arbeiten. Carrieras zögerliche Haltung bezüglich des Reisens änderte sich erst nach der Bekanntschaft mit ihrem Malerkollegen Nicolas Vleughels, der sich 1707 und 1708 in Venedig aufhielt. Auch die Beziehungen zu Pierre Crozat und später dem Kunstkritiker Pierre-Jean Mariette waren maßgeblich für ihre Entscheidung, Venedig schließlich doch für einige Zeit zu verlassen. Obwohl alle drei Männer die Malerin nach Paris eingeladen haben dürften, wird es letztendlich dem renommierten Bänker, Connaisseur und Sammler Crozat zuzuschreiben sein, dass Carriera 1720 schließlich zustimmte, erstmalig beruflich zu verreisen. 1715 hatte Crozat Venedig besucht, als er die Funktion des Kunstberaters und Agenten für den Regenten Frankreichs, Ludwig Philipp II., Herzog von Orléans, innehatte.15 Auch nach seiner Rückreise nach Frankreich blieb Crozat brieflich in Kontakt mit Carriera und versuchte hartnäckig, die Malerin davon zu überzeugen, einem Aufenthalt in Paris zuzustimmen, selbstverständlich als Gast in seinem hôtel in der Rue de Richelieu.16 Es bedurfte diverser Briefe, in der Crozat alle Möglichkeiten und Vorteile auflistete, die ein Aufenthalt an der Seine Carriera bieten würde, bevor sich dieMalerin imFebruar 1720, nachdemdie Accademia Clementina in Bologna sie ebenfalls in ihre akademischen Reihen aufgenommen hatte, endlich zum Aufbruch entschloss: Zusammen mit ihrer Schwester Giovanna und ihrer Mutter würde sie nach Paris reisen, und ihr Freund Zanetti würde die Damen auf der Reise begleiten.17 Paris war im 18. Jahrhundert nach London die zweitgrößte Stadt Europas, die nach demTod Ludwigs XIV. von seinem Neffen Philipp II. regiert wurde, solange der Urenkel des Sonnenkönigs, Ludwig XV., noch minderjährig war. Der königliche Hof war aus Versailles zurück nach Paris gezogen, und die Zeit unter der Regentschaft Philipps II. hatte sich bereits den Ruf erworben, eine Ära eingeläutet zu haben, die als freiheitsliebend, mondän und hochentwickelt bezeichnet wurde, wenn auch begleitet von Skandalen und Ausschweifungen.18 Als Crozats Gäste genossen die Carrieras das Privileg, unverzüglich mit den höchsten gesellschaftlichen Rängen der Stadt bekannt gemacht zu werden. Sie lernten nicht nur den Regenten und seine Gattin Françoise Marie de Bourbon kennen, sondern zahlreiche weitere Hofmitglieder und Repräsentanten der höchsten Aristokratie. Auch illustre Stellvertreter des Kunst- und Kulturlebens in Paris wie Pierre-Jean Mariette und Anne-Claude-Philippe, Graf von Caylus, gehörten zu ihren Bekanntschaften, letzterer ein geschätzter Kunst- und Literaturexperte, der auch als erfolgreicher Sammler tätig war und selbst Kupferstiche herstellte.19 Mariette, der als Connaisseur, Kunstliebhaber und Publizist bekannt war, arbeitete gleichzeitig an einem Künstlerlexikon, wofür er Kritiken und Notizen zu Sammlungen und Biografien zusammentrug. Erst 1851 veröffentlichten Chennevières undMontaiglonMariettes Aufzeichnungen in einem fünfbändigen Abecedario, in dem auch Carriera Berücksichtigung findet.20 Zu den frühen Biografen der Künstlerin gehörte ferner Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville, der ab 1743 die Stelle als königlicher Sekretär

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