Leseprobe

95 Als der sächsische Kurprinz Friedrich August 1711 seine bis 1719 währende Bildungsreise durch Deutschland, die Schweiz, Frankreich und Italien antrat, führte diese ihn bereits im Februar 1712 erstmals nach Venedig. Wie sein Vater August der Starke entwickelte er eine große Vorliebe für die Kunst der Lagunenstadt, wovon die vielen Werke von Tizian, Tintoretto, Veronese, bis hin zu Tiepolo und Canaletto in der Galerie zeugen. Eine besondere Leidenschaft aber zeigte er für die Pastelle von Rosalba Carriera, die zu dieser Zeit der aufgehende Stern unter den Künstlern Venedigs war. Als glühendster Verehrer Carrieras scheute er keine Kosten, um Pastelle von ihr »um jeden Preis anzukaufen, wie er es mit jedem geschätzten Werk Rosalbas zu tun pflegte, wo auch immer es sich befand«.1 Obwohl die Provenienz und Erwerbungsgeschichte von vielen Bildern Carrieras oft unbekannt bleibt, sind Ankäufe ganzer Bildkonvolute mehrfach dokumentiert, auch wenn die teils unspezifischen Titel in den Dokumenten keine eindeutige Zuordnung erlauben. So hatte Francesco Graf Algarotti im Auftrag August III. die Folge der Vier Elemente bei Carriera bestellt, die sie 1744 bis 1746 ausführte (s. Kat. 78–81).2 1750 kamen über Giovanni Pietro Minelli zwölf Pastelle aus dem Nachlass des Gelehrten Giambattista Recanati nach Dresden, die seineWitwe Fioravanza Ravagnani verkaufte und dafür ein Meissener Porzellanservice erhielt.3 Auch der Cavaliere Andrea Diedo, der 1753 fünf Pastelle von Carriera lieferte, bekam als Gegenleistung ein Schokoladen- und ein Kaffeeservice.4 Schließlich soll August 1757 nach dem Tod Rosalbas alle in ihrer Werkstatt befindlichenWerke aufgekauft haben;5 dies bleibt jedoch fraglich, da einige Pastelle familiär vererbtwurden und imNachlassinventar keine Gemälde von ihrer Hand explizit erwähnt sind.6 Die Kollektion des britischen Konsuls Joseph Smith, Kunstförderer und enger Freund Carrieras sowie Besitzer von 38 ihrer Werke, ging nach England in den Besitz von König George III. über; 23 dieser Pastelle waren 1760 August III. angeboten worden,7 aufgrund des Siebenjährigen Krieges aber gelangten sie nicht nach Sachsen. InDresdenwurdemit insgesamt 157 Werken8 die größte Sammlung von Pastellen Rosalba Carrieras zusammengetragen, die es je gegeben hat. Diese außergewöhnliche, über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten entstandene Sammlung an Pastellgemälden allein von Rosalba Carriera dürfte der Ausgangspunkt gewesen sein, sie gemeinsam und separat von den Ölgemälden im »Kabinett der Rosalba« zu präsentieren. Hinzu kamen die vier Pastelle des europäischen Weltbürgers Jean-Étienne Liotard aus Genf, darunter das berühmte Schokoladenmädchen, zwei Werke des namhaftesten französischen Pastellisten Maurice Quentin de Latour sowie zehn Pastelle von Anton Raphael Mengs. Mit der Umgestaltung des ehemaligen Stallhofs zur Gemäldegalerie in den Jahren 1745/46 durch Johann Christoph Knöffel wurde ein besonderer Raum zur Präsentation der Pastelle eingerichtet. Im ersten Band des Galeriewerks Recueil d’Estampes d’après les plus célèbres Tableaux de la Galerie Royale de Dresde, das 1753 von Carl Heinrich von Heineken verlegt wurde, zeigt der beigefügte Grundriss von Michael Keyl den mit »C« bezeichneten Raum als »Cabinet de Pastel« (Abb. 1). Vom Residenzschloss aus konnte der Kurfürst über den Langen Gang (heute Gewehrgalerie) seine Gemäldegalerie besuchen und betrat sie so immer zuerst durch das Pastellkabinett. Bei dem Kabinett handelte es sich um einen langrechteckigen, etwa 55 Quadratmeter großen Raum im Obergeschoss mit einer Raumhöhe von knapp neunMetern. Er wurde durch zwei Fenster von Nordosten belichtet, die Wand zum Stallhof war geschlossen. Von Giovanni Lodovico Bianconi ist die erste Beschreibung der Innengestaltung überliefert, auch wenn sie mit einigem zeitlichen Abstand erst 1781 erschien: »Das Kabinett der Rosalba ist ein großes helles grün tapeziertes Zimmer, welches auf eine breite und schöne Straße sieht. Die lange den Fenstern gerad über stehendeWand ist von unten bis oben mit den schönsten Pastelgemählden bedekt, die aus den Händen dieser braven Mahlerin gekommen sind, und ihrer mögen vielleicht über hundert seyn. Mitten darunter, wie in ihrer Residenz, sieht man das selbst verfertigte Porträt dieser unsterblichen Venezianerin, welches vor allen übrigen hervor sticht. An den beyden Seiten-Wänden, wo zwey sich gegen überstehende vergoldete Thüren sind, durchwelche man hinein geht, findet man alle Pastelgemählde vonMengs, die von Liotard, von Mr. De la Tour, und von einigen andern, aber der allerbesten Pastelmahler unsers Jahrhunderts, aufgehängt. Die vierte und langeWand, der Rosalbischen gegen über, hat blos Fenster von breitem Spiegelglase, und in den dazwischen stehenden Mauern (negl’ interfenestri) sind von oben bis an den Boden große französische Spiegel angebracht, die, indem sie so lachende Gegenstände verdoppeln, den Zuschauer bezaubern. Die Pastelgemählde, so wie ihre hellen Gläser und vergoldeten Rahmen, sind alle von gleicher Größe. Der Fußboden ist von eingelegtem allerley ausländischemHolze; das Dekengewölbe ist weiß, aber in arabischemGeschmack verzieret und vergoldet.«9 Der Chronist Dresdens, Johann Christian Hasche, relativierte in seiner Umständlichen Beschreibung die üppige Gestaltung Bianconis mit den Worten: »Wenn uns gedruckte Nachrichten von einem ausgemahlten Sale, von Statuen, Gruppen aus Marmor und Metall, Porphyr und Serpentinstein vorschwatzen, so ist das ein gewisser Beweiß, daß sie sie niemals gesehn. Die Decke ist weiß, ungemahlt, die Wände mit gründamastenen Tapeten mit golde-

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