Leseprobe

97 Meister zugunsten zeitgenössischer Kunst in einem künftigen kurfürstlich-königlichenMuseum verschieben wollte,12 ist nicht ganz auszuschließen. Wenn aber der gleiche Algarotti in einem Brief an Brühl 1745 Carrieras Urteil übermittelt, dass mit dem jüngst erworbenen Schokoladenmädchen von Liotard eine stilistische Ablösung stattgefunden habe und die gesamte Pastellmalerei überholt sei, inklusive ihrer eigenen,13 so zeigt dies auch die Grenzen seines Projekts auf: Innerhalb kürzester Zeit kann aus moderner Kunst die »alte« werden. Was die Hängung des Pastellkabinetts im Stallgebäude angeht, liegt es nahe, als Verantwortlichen den Venezianer Pietro Maria Guarienti zu vermuten. Er war bereits maßgeblich am Ankauf der herzoglichen Sammlung aus Modena 1745/46 beteiligt gewesen, wurde schließlich zum Inspektor der Dresdner Galerie berufen und arrangierte die Neupräsentation der italienischen Ölgemälde in der Inneren Galerie im umgebauten Stallgebäude.14 Nach der Eröffnung der Gemäldegalerie 1746 muss es imPastellkabinett öfter zu Umhängungen gekommen sein, auch um die späteren Erwerbungen von Carriera in das Konzept zu integrieren. Hier gibt es keine Quellen: die beiden ersten Ausgaben des Galeriekatalogs von Johann Anton Riedel und Christian Friedrich Wenzel erschienen mit zeitlicher Distanz 1765 und 1771. Sie listen zudem die ausgestellten Werke nur nach Künstlern auf, sodass sich deren jeweilige Position an der Wand nicht lokalisieren lässt.15 Dies ändert sich schrittweise in den ab 1801 regelmäßig erscheinenden Katalogen, die die Pastelle in Gruppen nach ihrer Hängung aufzählen, allerdings auch hier nicht immer eindeutig nachvollziehbar.16 Trotz der Dominanz von Carrieras Werken entwickelte sich im 19. Jahrhundert Das Schokoladenmädchen von Liotard zumLieblingsbild vieler Besucher, und auch der Rahmenmit seinen aufwendigen Details hebt das Bild aus den in der Menge fast uniformwirkenden Porträts deutlich hervor (Abb. 3).17 Konkrete Vorbilder für ein Pastellkabinett gab es nicht, und es wurde selbst kein Modell für nachfolgende Sammlungen oder Museen. In Dresden gab es mit der Sammlung des sächsischen Ministers Heinrich Graf von Brühl eine Kollektion, die sich an der kurfürstlich-königlichen orientierte, auch wenn sie hinter dieser zurückzustehen hatte.18 Zumindest soll sein Arbeitszimmer mit Email- und Pastellmalereien ausgestattet gewesen sein.19 Berichtet wird weiter, dass der Dresdner Landschaftsmaler Johann Alexander Thiele für den Minister Brühl ein ganzes Pastellkabinett gemalt habe: »Überhaupt wollen ihn manche für den Ersten halten, der in Deutschland Landschaft in Pastell malte«,20 allerdings sind von ihmWerke in dieser Technik nicht dokumentiert. Auch besaß Brühl offensichtlich keine Bilder von Rosalba Carriera.21 Der Umzug der Dresdner Gemäldegalerie in den 1855 fertiggestellten Semperbau am Zwinger bedeutete für die Pastellgemälde eine schrittweise Zurücknahme ihrer prunkvollen Präsentation. Damit einher ging – nicht nur in Dresden – eine allgemein abnehmendeWertschätzung der Kunst des Rokoko. Die Pastellgemälde wurden nun in zwei Räumen des Erdgeschosses untergebracht, die sich nach Norden zumTheaterplatz hin orientierten.22 Daran schloss sich ein Kabinett für die Werke von Christian Wilhelm Ernst Dietrich an sowie vier Räume, die den Bildern Antonio Canalettos und Bernardo Bellottos vorbehalten waren. Dem Galerieverzeichnis nach, das erstmals nach der Neueinrichtung im Zwinger 1856 erschien, wurden dort insgesamt 178 Pastelle gezeigt.23 Als 1889 die Sammlung der Gipsabgüsse von Anton Raphael Mengs aus der Osthalle imErdgeschoss des Semperbaus ins Albertinumumzog, wurden »diese neuen Säle ganz dem 18. Jahrhundert gewidmet, dessen für die KunstAbb. 3 Jean-Étienne Liotard Das Schokoladenmädchen um 1744 · Pastell auf Pergament Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gal.-Nr. P 161

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