Leseprobe

287 1945–1990 Benjamin Rux lf Freunde müsst ihr sein. Was für den Fußball gilt, kann im richtigen Leben nicht falsch sein. Um gemeinsam Ziele zu erreichen, braucht es ein Gefühl von Solidarität und Nähe. Vor allem, um der Obrigkeit eine Nase zu drehen und sich über Normen, Regeln und die Ansichten, was gut und richtig sei, lachend hinwegzusetzen. In der Kunstszene der DDR gab es seit der Mitte der 1970er Jahre einen losen, aber durch Sympathie und Freundschaft miteinander verwobenen Bund verschiedener Akteure mit dem Lindenau-Museum. Viele von ihnen beteiligten sich an den legendären Fußball-Happenings zwischen den Leipziger »Art Breaker« und »Clara Mosch«1 aus dem damaligen Karl-Marx-Stadt, die zwischen 1977 und 1982 jährlich stattfanden (Abb. 1). Auf Seiten der Leipziger sind hier zu sehen: Lutz Dammbeck, Johannes Heisig, Wolfgang Henne, Albrecht Gehse, Wolfgang E. Biedermann (mit Sohn), Hans-Hendrik Grimmling, Günther Huniat (stehend von links), Olaf Wegewitz, Frieder Heinze, Peter Schnürpel (hockend von links). Mittendrin mit Ball und Fahne: Helmar Penndorf, Leiter der Grafischen Sammlung am Lindenau-Museum und Torwart des Teams. Zwar waren der Teamgeist und das Bewusstsein, zu einer gesellschaftlichen Gegenbewegung zu gehören, die ihre Schlagkraft aus der künstlerischen Freiheit bezog, bestimmend, doch wird im Rückblick die Verankerung kreativer Potenziale in jedem einzelnen Künstler selbst klarer: Die individuelle Schaffenskraft, das Schöpfen aus den eigenen Erfahrungen und Gefühlen, der Ausdruck der eigenen Haltung gebaren jene stilistische Vielfalt, die am Lindenau-Museum ausgestellt und gesammelt wurde. Matthias Flügge zitierte in seinem Vorwort zur Ausstellung Kunst der Gegenwart (1986) in diesem Sinne Charles Baudelaire: »Obwohl das Prinzip des Universums auf der Einheit beruht, liefert die Natur nichts Absolutes, nicht einmal etwas Vollständiges; ich sehe nichts als Individuen.«2 Verlorene Illusion Die Evidenz des Plusquamperfekts: Manchmal bilden die in weiter Vergangenheit entstandenen Kunstwerke die besten Stimmungsbilder einer Epoche. Im Jahr 1974 erwarb das Lindenau-Museum das Gemälde Verlorene Illusion, das Elisabeth Voigt, die Urahnin der Leipziger Schule, unmittelbar nach Kriegsende 1945 gemalt hatte (siehe Abb. 2 auf S. 252). Voigt, die in den 1920er Jahren bei Käthe Kollwitz und Karl Hofer studiert hatte, gab mit dem auffallend gekleideten Mädchen in ärmlicher Umgebung das Bild einer politisch desillusionierten Jugend, die allenfalls noch im Vertrauen auf die eigenen Potenziale Kraft und Zuversicht erhielt. Der Traum von einer neuen Ära der Menschheit nach Maßgabe sozialistischer Ideologie war bei Voigt bereits 1945 ausgeträumt. Mitte der 1970er Jahre erfuhr diese Stimmungslage mit dem Ankauf des Bildes eine unbarmherzige Aktualisierung. Der kurzen Phase einer kulturellen Öffnung in der DDR zu Beginn der Dekade folgten neue Restriktionen, die spätestens mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann (1976) allen bewusst wurden und die zarten Hoffnungen einer jungen Generation wie die Seifenblasen in Voigts Bild zum Platzen bringen sollten. Voigts Bild einer selbstbewussten Frau ist eines der ganz wenigen Werke einer Künstlerin, das in den letzten beiden Dekaden der DDR in den Besitz des LindenauMuseums gelangte. Ein Jahr darauf wurde die von Helmar Penndorf geleitete Grafische Sammlung durch eine erste Arbeit des späteren Gerhard-Altenbourg-Preisträgers Michael Morgner bereichert. Auf dem Blatt Zwei Akte können wir dem Künstler gleichsam bei der Entwicklung seines zeichenhaften, poetischen Formsystems über die Schulter schauen (Abb. 2). Die beiden in Grau und Braun lavierten Akte, die sich ihrer kleidenden Hüllen gerade entledigen, sind durch ein Band, das an einen Zahnriemen oder die Spur eines Traktorreifens erinnert, voneinander getrennt oder vereinzelt. Die martialisch scharfen Kanten des Riemens stehen in merklichem Gegensatz zu den organischen, weichen Formen der beiden nackten Körper. Morgner, der auf Seiten der Karl-Marx-Städter an den Fußball-Aktionen teilgenommen hat, zog nach einem Kunststudium in Leipzig in seine Heimatstadt zurück, wo er Gründungsmitglied der Galerie Oben (1973) und der Künstlergruppe »Clara Mosch« wurde. Sowohl die Galerie als auch die für ihre experimentellen Happenings bekannt gewordene Künstlergruppe standen mit dem LindenauMuseum in engem Austausch. Das Archiv des Fotografen Ralf-Rainer Wasse, das in über 8 000 Fotografien einen einzigartigen Einblick in das Wirken von »Clara Mosch« liefert, befindet sich heute ebenfalls im LindenauMuseum.3 E

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