Leseprobe

289 1945–1990 Eine »Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack« Morgner und Claus entschieden sich bewusst für ein Leben jenseits der Metropolen, um in der Peripherie – so zumindest die Hoffnung – freier arbeiten zu können. Dieser Umstand traf auch auf Gerhard Altenbourg zu, der zurückgezogen, aber nicht isoliert von Altenburg aus seinen Wirkungsradius entfaltete. Altenburg, zum Bezirk Leipzig gehörend, bot mit seinem Lindenau-Museum Freiraum jenseits des Radars, war »Kunstschutzgebiet« und galt wie kaum ein anderes staatliches Museum in der DDR als Ort für unterschiedliche, freigeistige, experimentelle und widerspruchsvolle Kunstformen.6 Die historisch gewachsene Sammlung wurde in Sonderausstellungen immer wieder spielerisch mit zeitgenössischer Kunst in Verbindung gebracht, vor allem in den thematischen Sommerausstellungen wie jener zur Post von 1982, als in den hinteren Räumen en passant Mail-Art aus dem Archiv des Berliner Künstlers Robert Rehfeldt gezeigt wurde – ein Novum in der DDR. In besonders überzeugender Art und Weise wurde Gegenwartskunst in die Ausstellungen Segel der Zeit zum russischen Futurismus (1985) und Von MERZ bis heute zu Kurt Schwitters und der Dada-Bewegung (1987) eingeflochten, unter anderem mit Arbeiten von Joseph Beuys und Klaus Staeck. In Segel der Zeit gaben sich Gerhard Altenbourg, Carlfriedrich Claus, Frieder Heinze und Olaf Wegewitz auf der einen und John Cage, Ilse und Pierre Garnier, Franz Mon und Jiří Valoch auf der anderen Seite die Hand. Hermann Glöckner, der in der Ausstellung mit zehn Zeichnungen vertreten war, schrieb 1987 an das Lindenau-Museum: »Schon die Tatsache, welch Echo diese Ausstellung seinerzeit hervorgerufen hat, ist doch hocherfreulich!«7 Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung hielt noch Jahre später fest: »Jene Ausstellung stieß Türen zu einer bis dahin in der DDR unvorstellbaren Kunst der Installations-Projekte auf.«8 Das Selbstverständnis der in Segel der Zeit gezeigten russischen Futuristen umWelimir Chlebnikow, die ihre Kunst als »Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack«9 verstanden wissen wollten, gewann am Lindenau-Museum in den 1980er Jahren als gelebte Haltung neue Bedeutung. Der freigeistige Anspruch, der von staatlicher Seite erkannt, aber toleriert wurde, sprach sich schnell unter den Künstlern weit über den Raum Leipzig hinaus herum. »Wir fühlten uns von diesem Haus immer wieder angezogen, ihr wart ja das einzige Museum, in dem so etwas möglich war«, so hört man heute etwa Hans-Hendrik Grimmling sagen.10 Grimmling war 1984 einer der führenden Köpfe des halboffiziellen 1. Leipziger Herbstsalons, der für drei Wochen im Messehaus am Markt veranstaltet wurde und ein beträchtliches Publikum anzog (in den knapp vier Wochen kamen ca. 10 000 Besucher).11 Die sechs beteiligten Künstler – Lutz Dammbeck, Günter Firit, Hans-­ Hendrik Grimmling, Frieder Heinze, Günther Huniat und Olaf Wegewitz – gehörten zum Kreis um das LindenauMuseum und sind hier mit wichtigen Werken vertreten. Bereits 1979 gab es eine Ausstellung mit Grimmling, 1985 wurde dann das Gemälde Schuld der Mitte angekauft (Abb. 3). In sich verstrickte Leiber und Gliedmaßen schnellen aus dem Bildzentrum in alle Richtungen. Das Menschenknäuel scheint im Taumel begriffen – ein bei Grimmling und anderen Künstlern der Zeit häufig anzutreffendes Gefühl des Stolperns, Stürzens, des freien Falls stellt sich ein. Ein vehementer Zweifel am richtigen Leben im falschen. Ein Sinnbild auf eine Zeit im Umbruch. Bereits unter dem Direktorat von Dieter Gleisberg wurden vermehrt junge künstlerische Positionen aus dem Raum Leipzig in Ausstellungen vorgestellt und gesammelt. Seit 1972 fand das Ausstellungsformat Junge Leipziger Kunst im Lindenau-Museum bei Besuchern vor allem deshalb reges Interesse, weil hier die Vielfalt künstlerischen Gestaltens im Bezirk Leipzig in den Blick genommen

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