Leseprobe

44 Hiroshimas langer Schatten machen und die Gegenseite zermürben, dergleichen wurde während des Kalten Krieges mit klerikaler Bestimmtheit vorgetragen – mal von Spitzenpolitikern wie John Foster Dulles und Nikita Chruschtschow, mal von Publizisten, deren Denkschriften reißenden Absatz fanden. Der Widerwille gegen eine Entwertung des Militärischen war allgegenwärtig, das unentwegte Anrennen gegen das Wissen um die Unzumutbarkeit eines Atomkriegs fast schon verzweifelt und die Hoffnung auf technologische Wunderheilung dementsprechend groß. Ein nukleares Tabu gab es im Grunde genommen nicht. Obendrein folgten die Strategieplaner im Pentagon – wie ihre sowjetischen Pendants – einem Merksatz ganz eigener Art: Wer nicht als Erster schießt, verspielt von Anfang an jegliche Aussicht auf sein Überleben. So lautet die überzeitliche, sämtliche Eventualpläne bis heute umklammernde Richtlinie. Der amerikanische Spieltheoretiker Thomas Schelling hat sie in den 1960er-Jahren popularisiert und dafür das Bild des Revolverhelden bemüht. Genauer gesagt dessen vage Hoffnung, im Duell mit einem Ebenbürtigen schneller zu ziehen und sich damit wider Erwarten doch noch einen Vorteil zu verschaffen.4 Rodion J. Malinowski, sowjetischer Verteidigungsminister von 1957 bis 1967, kam zu dem gleichen Schluss und bezeichnete den Erstschlag als wichtigstes Instrument nuklearer Kriegführung.5 Offensive oder Niederlage: Die Furcht des Zuspätkommens überlagerte sämtliche Bedenken, sie trieb das Austüfteln von Abläufen für einen Atomkrieg verlässlich an – im Osten wie imWesten. So wurde die Saat einer geistigen Monokultur ausgebracht, die von der Machbarkeit des Krieges nicht lassen wollte und sich einen ethisch porösen Bezug zum Frieden leistet. Wie viel Vernichtungspotenzial muss sein? Welche zivilen Einrichtungen sollten geschont, welche militärischen Ressourcen unbedingt anvisiert werden? Was ist unter hinnehmbaren Schäden oder der wolkigen Vorstellung gesellschaftlicher Regeneration nach dem Tag X konkret zu verstehen? Militärs und zivile Experten schlagen sich unablässig mit diesen Fragen herum. Und dies umso mehr, als die Entwicklung von Wissenschaft und Technik immerzu neue Ideen hervorbringt. Verkleinerte Atomwaffen, sogenannte Mini-Nukes, eignen sich scheinbar für »feingesteuerte Operationen« auf »begrenzten Schauplätzen«, eine einzige, mit Mehrfachsprengköpfen bestückte Interkontinentalrakete kann zahlreiche Objekte auf einmal und in großem Umkreis zerstören, verbesserte Steuerleitsysteme lenken Waffen derart präzise ins Ziel, dass eine Lähmung oder Entwaffnung der Gegenseite nicht mehr ausgeschlossen ist – zumindest in der Theorie. In der Sowjetunion bastelte man zeitweilig sogar an einem System, das im Fall einer »Enthauptung«, der Zerstörung sämtlicher Befehlszentralen, einen vollautomatisierten Gegenschlag auslösen sollte. »Dead Hand«, so die amerikanische Bezeichnung, scheiterte an Komplexität und astronomischen Kosten, der Ingenieurstraum jedoch lebt weiter.6

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