Skulpturensammlung Dresden P
Sascha Kansteiner Herausgeber: Staatliche Kunstsammlungen Dresden Stephan Koja Polyklet. Das Œuvre des berühmten griechischen Bildhauers im Spiegel der Dresdner Sammlung Skulpturensammlung Dresden
12 Vorwort 14 Einleitung 17 Polyklet Katalog 30 1 Statue eines unbekannten Athleten 36 2 Statue des Olympiasiegers Kyniskos 44 3 Statue des Achill (?) 50 4 Statue eines unbekannten Athleten 54 5 Statue des Hermes 58 6 Statue eines unbekannten Athleten 62 7 Statue einer tödlich verwundeten Amazone 66 8 Statue eines Heros 70 9 Männliche Statue 72 10 Statue des Apollon 78 11 Statue eines Knaben 82 12 Statue eines unbekannten Athleten 88 13 Statue des Paniskos 95 Anmerkungen 102 Glossar 102 Griechische Bildhauer 103 Literatur 104 Impressum Inhalt
14 Einleitung Einen Kernbereich der Dresdner Skulpturensammlung bilden Statuen, Statuetten und Büsten, die antike Bildhauer in der Zeit vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis zum späten 4. Jh. n. Chr. geschaffen haben. Innerhalb dieses sehr weit gespannten zeitlichen Rahmens kommt den Schöpfungen aus dem 5. und 4. Jh. v. Chr., also denjenigen aus der Blütezeit der griechischen Bildhauerkunst, eine herausragende Rolle zu. Denn etliche der seinerzeit entstandenen Werke sind nicht nur in antiken Texten, vor allem in der Naturalis historia des Plinius (zweite Hälfte des 1. Jhs. n. Chr.) und in Pausanias’ Perihegese, einer Art Reisebericht (zweite Hälfte des 2. Jhs. n. Chr.), gewürdigt worden, sondern auch, und das ist von essenzieller Bedeutung, kopiert worden: Bereits im 2. Jh. v. Chr. hat man in Griechenland damit begonnen, Statuen von der Hand berühmter Bildhauer abzuformen und mithilfe solchermaßen erzeugter Abgüsse zu Verkaufszwecken zu vervielfältigen. Kopiert wurden vorzugsweise Bronzestatuen: von Gottheiten und anderen mythologischen Gestalten, von Heroinen und Heroen, von Personifikationen, siegreichen Athleten, Dichtern, Philosophen, Politikern und Tieren. Die Größe der kopierten Originale betrug üblicherweise etwa 1,40 m (Knabe bzw. Ephebe in Lebensgröße) bis etwa 2,10 m (Gott oder Heros in Überlebensgröße). Gelegentlich sind außerdem auch Statuetten, also deutlich unterlebensgroße Werke, abgeformt worden sowie besonders große Skulpturen, zum Beispiel ein knapp 3 m großer Herakles von der Hand Lysipps (Herakles Typus Farnese). Bei Werken kolossalen Formats kam es, wenn überhaupt, nur zur Abformung von Details: Von der Athena Parthenos, einem knapp 12 m großen Werk des Phidias aus der Zeit um 440 v. Chr., hat man die Relieffiguren der Amazonenschlacht abgeformt, mit der die Außenseite ihres Schildes geschmückt war. Auch Porträtstatuen sind häufig nicht als Ganzes, sondern nur auszugsweise abgeformt worden, umTeilkopien in Form von Büsten oder Hermen herstellen zu können. Kopiert wurden schließlich auch einige Hermen, etwa solche, die den Gott Hermes mit Vollbart zeigen, sowie reliefplastische Werke. Diese Produktion von Kopien berühmter griechischer Bildwerke kam erst nach über 350 Jahren, in der zweiten Hälfte des 3. Jhs. n. Chr., nach und nach zum Erliegen. Da die Übertragung der Abgüsse in Marmor oder Bronze in der Regel mit großer, oft auch mit größter Sorgfalt praktiziert worden ist und da sich außerdem nicht selten gleich mehrere Kopien desselben Originals nachweisen lassen, ist die Forschung seit etwa 130 Jahren imstande, das Schaffen der bedeutendsten Bildhauer des 5. und 4. Jhs. v. Chr. zumindest in Teilen rekonstruieren zu können. Das auf diese Weise gewonnene Bild von der Meisterschaft griechischer Bildhauer wird durch einige wenige Originalwerke klassischer Zeit ergänzt, die entweder nie unter die Erde gelangt sind, wie die Koren vom Erechtheion auf der Athener Akropolis, oder in der Neuzeit wiederentdeckt wurden, wie die beiden im Ionischen Meer in der Nähe von Riace Marina gefundenen nackten Heroen aus Bronze, die heute im Archäologischen Museum von Reggio (Kalabrien) aufbewahrt werden. Einer der größten Glücksfunde ist die aus Marmor gearbeitete und im Tempel der Hera in Olympia freigelegte Statuengruppe von Hermes und Dionysos, die dank Pausanias’ Erwähnung als Werk des wohl berühmtesten Bildhauers des 4. Jhs. v. Chr., des Praxiteles, bestimmt werden kann (Abb. 1). Diese Skulptur gehört, vielleicht wegen ihrer einstigen, heute nur noch zu erahnenden Farbgebung, zu denjenigen, die offenbar nicht abgeformt werden durften und demzufolge nicht in Kopie vorliegen. Anders verhält es sich mit den bereits erwähnten Erechtheion-Koren, die ebenfalls aus Marmor bestehen. Sie sind in der römischen Kaiserzeit, im 1. und 2. Jh. n. Chr., abgeformt und vervielfältigt worden, unter anderem für eine der berühmtesten kaiserlichen Villenanlagen, die im Auftrag von Kaiser Hadrian (reg. 117–138 n. Chr.) angelegte Villa in Tivoli (Latium). Leider gibt keine antike Schriftquelle darüber Auskunft, wer die Bildhauer der sechs attischen Koren gewesen sind und ob es sich bei ihnen um bedeutende Vertreter ihres Faches gehandelt hat.
15 Abb. 1 Ludwig Otto: Hermes des Praxiteles Aquarell, 1888, Dresden, Archiv der Skulpturensammlung Bei der Beschäftigung mit antiken Kopien verlorener Originale ist zu berücksichtigen, dass die meisten von ihnen aus hellem Marmor bestehen, während die Mehrzahl der verlorenen Originale den literarischen Quellen zufolge aus Bronze (unterschiedlicher Tönung) gefertigt war. Nur ausnahmsweise gelangten bei der Herstellung von Kopien auch andere Materialien zum Einsatz, beispielsweise ägyptische Grauwacke, eine überaus harte Gesteinssorte von dunkelgrüner oder dunkelbrauner Farbe (vgl. unten zu Kat. 1, 4 und 10). Haben sich mehrere Kopien einer bestimmten Skulptur erhalten, wird für diese der Begriff »statuarischer Typus« oder, wenn nur der Kopf überliefert ist, der Begriff »Kopftypus« verwendet, die beide stellvertretend für das »Original« gebraucht werden können. Da es häufig, etwa bei den meisten Statuen siegreicher Athleten, nicht möglich ist, den Dargestellten zu benennen, und da wir auch bei der Mehrzahl der Statuen von Gottheiten und Heroen die ursprüngliche Bezeichnung des jeweiligen Werkes nicht kennen, ist man in der Regel gezwungen, einen statuarischen Typus mit einer behelfsmäßigen Bezeichnung zu versehen (Herakles Typus Farnese). Dieses Verfahren hat sich bereits in der Antike bewährt, etwa um die dargestellte Person anhand der von ihr vollführten Aktion zu charakterisieren (vgl. Kat. 10, »Derjenige, der sich eine Stirnbinde umlegt«).
17 Polyklet Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass einer der bedeutendsten abendländischen Bildhauer ausgerechnet den Namen »der weithin Berühmte« (griech. Polykleitos) trägt. Platon nennt ihn im frühen 4. Jh. v. Chr. in seinem Dialog Protagoras in einem Atemzug mit Phidias, dem Schöpfer eines der Sieben Weltwunder (Zeus von Olympia), und in einer anderen Quelle, die dem römischen Gelehrten Plinius d. Ä. im 1. Jh. n. Chr. vorgelegen hat, muss davon die Rede gewesen sein, dass er seinen Zeitgenossen Phidias sogar übertroffen habe, und zwar mit der in Ephesos in Kleinasien aufgestellten Statue einer Amazone (Kat. 7). Von Polyklet und einzelnen seiner Werke berichten außer Platon und Plinius auch noch etliche weitere griechische und römische Autoren, wie zum Beispiel Philon von Byzanz, Cicero, Quintilian und Plutarch, und noch im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts ist bei der byzantinischen Geschichtsschreiberin Anna Komnene die Rede von Polyklets »Kanon«. Polyklet dürfte bald nach 490 v. Chr. in Argos auf der Peloponnes geboren worden sein und ist wahrscheinlich ebenda, zwischen 420 und 400 v. Chr., gestorben. Sein Schaffen umfasste ausschließlich Werke aus Bronze, was in der Berufsbezeichnung – »Schöpfer von [rundplastischen] Bildwerken« (griech. agalmatopoiós) – jedoch nicht zum Ausdruck kommt.1 Sein Wirkungsbereich dürfte sich auf die Peloponnes konzentriert haben; er hat aber nachweislich auch einen Auftrag für die Herstellung einer verwundeten Amazone angenommen, den er aus Ephesos, vielleicht von der Priesterschaft des dortigen Artemis- Heiligtums, erhalten hatte (Kat. 7). Zudem ist von zwei Siegerstatuen, die Polyklet wahrscheinlich ebenso wie die Amazone in seiner Heimatstadt angefertigt hat, der Ort der Aufstellung bekannt. Es handelt sich um das Zeus- Heiligtum in Olympia (Abb. 2). Auf der Oberseite der Basis für die eine der beiden Statuen hat sich bis heute ein Teil der ›Signatur‹ erhalten.2 Anlässlich der Aufstellung der Statue des Olympiasiegers Pythokles aus Elis in der Zeit um 450 v. Chr. hat ein Steinmetz in dem griechischen Dialekt, der in Argos gesprochen wurde, die folgende Angabe in den Stein eingetragen: »Πολύκλετος [ἐποίε Ἀργεῖος] / Polyklet [aus Argos hat dies geschaffen]« (Abb. 3). Diese Angabe ist einige Jahrhunderte später, vielleicht im Zusammenhang mit einer neuen Sockelung der Statue oder einer anderen, gravierenderen Umgestaltung, auf dem gegenüberliegenden Abschnitt der Oberseite der Basis wiederholt worden. Im Zentrum von Polyklets Schaffen standen rundplastische Darstellungen ruhig stehender nackter Knaben, Jugendlicher und Männer in Lebens- oder leichter Überlebensgröße (Kat. 1–6, 8–13). Für diese Statuen ist es charakteristisch, dass Stand- und Spielbeinseite deutlich voneinander unterschieden sind. Der Unterschenkel des entlasteten Beins ist in der Regel nach hinten geführt und der zugehörige Fuß mit der Ferse und dem zentralen Abschnitt der Sohle vom Boden gelöst. Das durch die Position des zurückgestellten Fußes hervorgerufene Ungleichgewicht, das mit einem einseitigen Absenken der Beckenpartie einhergeht, wird durch eine Kontraktion der über dem Standbein befindlichen Körperhälfte ausgeglichen sowie in vielen Fällen außerdem dadurch, dass der Kopf zur Standbeinseite gedreht ist. Gleichzeitig korrespondiert mit der Entlastung des Spielbeins in der Regel diejenige des Arms der gegenüberliegenden Seite, während der Arm der Spielbeinseite eine Aktion vollführt. Das auf einen Ausgleich von Ruhe und Bewegungsimpuls zielende Kompositionsprinzip erstreckt sich auch auf das Haupthaar, welches einem raffinierten System aus Bewegung und Gegenbewegung unterworfen ist. Plinius zufolge soll Polyklet der erste Bildhauer gewesen sein, der die an ein Schreiten erinnernde Art des Stehens bei seinen Bildwerken zur Darstellung gebracht hat.3 Wenn Plinius in demselben Zusammenhang unter Berufung auf Varro davon spricht, dass Polyklets Skulpturen außerdem einen »quadratischen« Eindruck hinterlassen hätten, ist es unklar, ob damit eine Kritik an deren Erscheinungsbild zum Ausdruck gebracht werden soll.4 Im Vergleich mit den Bildwerken späterer Zeiten, etwa mit solchen des 4. Jhs. v. Chr. (Abb. S. 15), konnte man sicher Abb. 1 Detail aus Abb. 7
18 Abb. 2 Heinrich Gärtner: Das Zeus-Heiligtum von Olympia Aquarell, 1889, Dresden, Archiv der Skulpturensammlung Abb. 3 Karl Purgold: Oberseite der Basis für die Siegerstatue des Pythokles, Umzeichnung, um 1890
19 den Eindruck gewinnen, dass Polyklets Schöpfungen eine gewisse Leichtigkeit oder Geschmeidigkeit fehlte. Seine Werke seien darüber hinaus, so Cicero in einem Dialog, der den Titel Brutus trägt, geradezu vollkommen gewesen (»iam plane perfecta«),5 mögen also dem einen oder anderen Betrachter als (zu) »akademisch« erschienen sein. Verantwortlich für den perfekt anmutenden Gesamteindruck war ein Höchstmaß an formaler Ausgewogenheit, für welches die nackte, ruhig stehende männliche Figur eine ideale Projektionsfläche bot, und welches offenbar auch dadurch zustande kam, dass Polyklet ausführliche, auf der Vermessung der einzelnen Gliedmaßen beruhende Berechnungen zu den Proportionen des menschlichen Körpers angestellt hat.6 Wie kein anderes seiner Werke verkörpert die als Speerträger (griech. doryphóros) bekannte Statue, vielleicht eine Darstellung Achills (Kat. 3), Polyklets perfektionistisches Streben nach Ausgewogenheit. Wohl zu Recht wird dieses Bildwerk daher mit einer als Kanon bezeichneten Statue gleichgesetzt, die der griechische Arzt und Philosoph Galen (zweite Hälfte des 2. Jhs. n. Chr.) in einer Schrift mit demTitel Über die Mischungen erwähnt: »Und [deswegen] wird wohl auch eine Kanon genannte Statue Polyklets gelobt, die diesen Namen erhalten hat, weil sich alle Teile genau in der richtigen Proportion zueinander verhalten.«7 Von Galen erfahren wir außerdem, dass Polyklet seine Überlegungen zur bildnerischen Gestaltung des menschlichen Körpers auch in eine kunsttheoretische Schrift hat einfließen lassen. Die Schrift, aus der kein wörtliches Zitat überliefert ist, soll Galen zufolge ebenso bezeichnet worden sein wie die auf ihrer Grundlage angefertigte Statue: »[...], wie im Kanon Polyklets geschrieben steht. Denn alle Verhältnisse (symmetríai) des Körpers hat Polyklet uns in jener Schrift gelehrt; und in seinem [plastischen] Werk hat er diese Lehre bekräftigt, indem er nach den Vorschriften in seiner Abhandlung eine Statue schuf und die Statue selbst Kanon nannte wie auch seine Schrift.«8 Durch seine theoretische Beschäftigung mit der Bildhauerkunst tritt Polyklet, vielleicht als der erste bildende Künstler überhaupt, aus dem Status einer in erster Linie handwerklich tätigen Person heraus. Sein Kanon ist »ein Zeichen sozialer Emanzipation und zugleich ein erstes Zeugnis für die Bereitschaft, zwischen Handwerk und Kunst zu unterscheiden. Denn wer gründlicher als gewöhnlich ein Handwerker über sein Tun nachgedacht hat und darüber Rechenschaft abzulegen weiß, der darf für das Ergebnis seines derart reflektierten Schaffens auch eine erhöhte Aufmerksamkeit beanspruchen.«9 Besondere Beachtung ist Polyklets Schaffen in der Zeit von etwa 100 v. Chr. bis etwa 250 n. Chr. zuteilgeworden, als man viele seiner Bronzestatuen mehrfach abgeformt und auf der Grundlage der aus den Negativformen gewonnenen Abgüsse zigfach vervielfältigt hat. Tatsächlich ist Polyklet der am häufigsten kopierte Bildhauer der hochklassischen Zeit. Die Wiederentdeckung Polyklets in der Neuzeit In der Renaissance führte das neu erwachte Interesse an der Antike zu einer intensiven Beschäftigung mit den Texten, in denen die berühmten griechischen Bildhauer und Maler Erwähnung gefunden haben. Zwischen 1310 und 1320 erweist Dante im Purgatorium der Divina Commedia Polyklet seine Reverenz, indem er ihn als Gradmesser für die Qualität von Kunstwerken anführt.10 Gut 100 Jahre später muss Polyklets Name erstmals dazu herhalten, den Verkaufspreis einer antiken Skulptur zu steigern. So geht aus einem Brief des Humanisten Poggio Bracciolini (1380–1459) hervor, dass ein gewiefter griechischer Händler um 1430 den Versuch unternahm, einen antiken weiblichen Kopf als eine Hera von der Hand des Polyklet zu verkaufen.11 Ungefähr zur gleichen Zeit führte eine Inschrift die Gelehrten auf eine falsche Fährte. Diese Inschrift befand sich auf einem Karneol, der seit rund 300 Jahren verschollen ist, und lautete »ΠOΛYKΛEITOY« (»[Werk] des Polyklet«). Sie muss von einem Namensvetter des Bildhauers stammen, der wahrscheinlich im 3. Jh. v. Chr. tätig gewesen ist, und zwar als Gemmenschneider.12 Der Karneol, über dessen Aussehen Abdrücke informieren, zeigt, wie Diomedes mit dem gerade geraubten kleinen trojanischen Athena-Kultbild in der einen und dem gezückten Schwert in der anderen Hand über einen Altar steigt. Auch wenn dem Bildhauer Polyklet in keinem antiken Text eine Darstellung des Diomedes zugeschrieben wird, scheint das Thema eigentlich mit der Autorschaft dieses
20 Mannes gut vereinbar zu sein: Polyklet stammte aus Argos, also aus eben der Stadt, über die Diomedes der Sage nach als König geherrscht haben soll. Im 15. Jahrhundert war man sich jedoch über den Inhalt der Darstellung auf dem Karneol noch nicht im Klaren.13 Wenn der Florentiner Buchhändler Vespasiano da Bisticci in einer Biographie davon berichtet, dass eine von vielen weiteren motivgleichen Darstellungen um 1420/30 für polykletisch gehalten worden ist,14 kann dies nur darauf zurückzuführen sein, dass man aus der übereinstimmenden Komposition den Schluss zog, dass beide Gemmen von derselben Person geschaffen worden seien. Auch ein 2,2 cm hoher Gemmenabdruck in der Dresdner Sammlung geht auf einen antiken Schmuckstein mit der Darstellung dieses Motivs zurück (Abb. 4).15 Die erste graphische Abbildung der Kopie eines polykletischen Werkes findet sich in dem wohl berühmtesten Stichwerk zumThema »Antike Statuen«: Giovanni Battista Cavalieri (oder De’ Cavalieri) zeigt auf Tafel 62 seines Antiquarum statuarum Urbis Romae primus et secundus liber (Rom 1585) den heute in der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen aufbewahrten Doryphoros (vgl. hier Kat. 3), der bereits in der Antike in einen Satyr mit Panflöte und mit einem große Teile des Körpers bedeckenden Fell transformiert worden ist (Abb. 5).16 Abbildungen polykletischer Werke begegnet man natürlich auch im 17. Jahrhundert, etwa in der Galleria Giustiniana, dem ersten Stichwerk, das ausschließlich den Skulpturen einer einzigen, in Rom beheimateten Sammlung gewidmet ist. Tafel 58 in Band I der zwei Bände umfassenden Publikation aus dem Jahr 1635/36 zeigt eine Torsoreplik des Epheben Typus Westmacott (vgl. Kat. 2), die Gian Lorenzo Bernini vor 1634 als Lichtbringer ergänzt hat.17 Polyklet im Spiegel der Kopien (I): Winckelmann In den 60er-Jahren des 18. Jahrhunderts gelingt es zum ersten Mal, die ›Handschrift‹ Polyklets in einem großplastischen Werk ausfindig zu machen. Es war Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der Begründer der Klassischen Archäologie, der in einer damals im Garten der Villa Farnese in Rom aufgestellten Statue den Reflex eines der polykletischen Hauptwerke vermutete. In seiner Geschichte der Kunst des Alterthums bringt er die heute im British Museum aufbewahrte Statue (Abb. 6) mit dem Diadumenos (Kat. 10) in Verbindung, der ihm in erster Linie durch die Erwähnung in Plinius’ Naturalis Historia ein Begriff gewesen ist:18 »Es ist glaublich, daß diese Statue sehr oft copiret worden, und vielleicht ist eine Statue in der Villa Farnese wenigstens nach einer Copie des Diadumenos gemacht.« Es muss hervorgehoben werden, dass die in der Fachliteratur als Diadumenos Farnese bezeichnete Statue keineswegs einen besonders günstigen Ausgangspunkt für die Wiedergewinnung des polykletischen Œuvres darstellt. Ihr Bildhauer hat das verlorene Bronzeoriginal nämlich nicht nur in anderem Material, sondern auch um etwa 20 Prozent verkleinert wiedergegeben. In Sorge um die Statik seiner Skulptur hat er obendrein ein für Polyklets Werke besonders charakteristisches Merkmal, den sog. Schrittstand, durch ein konventionelles Standmotiv ersetzt, was dazu geführt hat, Abb. 4 Abdruck einer antiken Gemme Schwefel, mit Zinnober angereichert, erste Hälfte des 18. Jhs. Dresden, Skulpturensammlung, Inv. ASN 5422 L 038
21 Abb. 5 Lorenzo Vaccari: Pastoris signum marmoreum Aus: Antiquarum statuarum urbis Romae, quae in publicis primatisque locis visuntur, icones (Rom 1584) Taf. [45] (nach Cavalieri) Abb. 6 Unbekannter Bildhauer: sog. Diadumenos Farnese Marmor, 2. Jh. n. Chr. London, British Museum, Smith Nr. 501
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31 1 Statue eines unbekannten Athleten, sog. Diskusträger Ein fälschlich als Diskusträger (griech. diskophóros) bezeichneter statuarischer Typus geht auf eine nicht mehr erhaltene Bronzestatue Polyklets zurück, die einen muskulösen nackten Mann mit rechtem Stand- und linkem Spielbein zeigte (vgl. Abb. S. 22). Die für die griechische Plastik seit dem zweiten Viertel des 5. Jhs. v. Chr. charakteristische ungleiche Verteilung der Körperlast auf die beiden Beine lässt sich gut an der Schrägstellung des Beckens ablesen. Im Bereich des Rumpfes wird die Schräge durch eine deutliche Kontraktion der rechten Körperhälfte wieder ausgeglichen, und zwar in einem solchen Maß, dass die Schulter dieser Seite etwas tiefer positioniert ist als diejenige der Spielbeinseite. Der Kopf war ein wenig zur Standbeinseite gedreht und etwas gesenkt; von den beiden Armen war der rechte im Bereich des Oberarms stärker vom Körper gelöst als der linke. Welchen Gegenstand der Dargestellte hielt, lässt sich, da die Hände bei keiner Kopie erhalten geblieben sind, nicht bestimmen.46 Das für Polyklet gerade nicht charakteristische Standmotiv, das sich dadurch auszeichnet, dass der Fuß des Spielbeins mit der ganzen Sohle den Boden berührt, spricht ebenso wie die Art der Haargestaltung dafür, dass das Original zu seinem frühen Schaffen gehört hat und älter als die übrigen statuarischen Typen ist, die auf Werke von seiner Hand zurückgehen. In der Forschung besteht Einigkeit darin, dass Polyklet die Statue um 460 v. Chr. geschaffen hat.47 Die Verbindung mit einer der Skulpturen, die diesem Bildhauer in antiken Texten zugeschrieben werden, ist nicht möglich;48 die Lebensgröße von ca. 1,77 m lässt erwarten, dass das Original einen siegreichen Athleten zeigte.49 In demselben Jahr, in dem es Adolf Furtwängler gelang, den statuarischen Typus des Diskusträgers zu konstituieren,50 hat die Skulpturensammlung von dem aus Dresden stammenden Archäologen Paul Arndt eine Kopfreplik als Geschenk erhalten, deren Wert dieser in einem im März Abb. 1–2 Unbekannter Bildhauer: Kopf der Kopie eines polykletischen Athleten Marmor, 1. Jh. n. Chr. Dresden, Skulpturensammlung, Inv. Hm 83 1893 verfassten Brief an Georg Treu mit zehn Lire beziffert hatte (Abb. 3–4).51 Der laut Arndt »sehr ruinierte, aber ehemals sehr gute« Kopf lässt sich mit Gewissheit als Replik des Diskusträgers bestimmen (Abb. 1–2): Er entspricht den übrigen Repliken nämlich nicht nur in der Lebensgröße und in der Rechtsdrehung, sondern auch in der Disposition des Haupthaars, was sich leicht bei der Betrachtung der Profile erkennen lässt. Für viele der in der römischen Kaiserzeit hergestellten Kopien berühmter
32 Abb. 3–4 Brief von Paul Arndt an Georg Treu, 19. 3. 1893 Dresden, Archiv der Skulpturensammlung
33 griechischer Statuen ist es charakteristisch, dass ihre Bildhauer – den erhaltenen Signaturen zufolge waren es fast immer Griechen – die Frisuren der Originale mit größtmöglicher Genauigkeit und unter Zuhilfenahme von Abgüssen reproduziert haben. Dies wird nirgendwo besser deutlich als bei einem Vergleich der Kopien, die auf Werke Polyklets zurückgehen. Auch an den Stellen, die für die Betrachter kaum oder gar nicht zu sehen waren, haben die Kopisten in der Regel Sorgfalt walten lassen. Auf dieser Grundlage ist es selbst dann möglich, ein Objekt mit einem bestimmten Werk Polyklets zu verbinden, wenn sich nur ein Fragment in Form einiger weniger Locken erhalten hat. Dies ist beispielsweise bei einem Bruchstück aus ägyptischer Grauwacke der Fall, das in den 1950er-Jahren in Rom zutage getreten ist und nur einige Strähnengruppen der linken Seite eines Kopfes umfasst.52 Wegen der Disposition der Locken muss das Fragment ebenso wie der Dresdner Kopf zu einer statuarischen, in der frühen römischen Kaiserzeit hergestellten Replik des Diskusträgers gehört haben. Es ist die einzige Kopie dieses Typus, die nicht aus Marmor besteht. Insgesamt lassen sich bislang mehr als 20 Repliken des Kopfes nachweisen, die mit einer Ausnahme, einer um etwa 50 Prozent verkleinerten Umdeutung als Hermes,53 alle im lebensgroßen Format übereinstimmen. Die Verbindung von Kopf und Körper ist nur selten bezeugt: bei zwei Umdeutungen als Herakles und als Dionysos (vgl. unten) sowie bei dem Oberteil einer Statue, das aus der Sammlung der Familie Odescalchi stammt.54 Da der Hals dieser Replik fast zur Gänze neuzeitlichen Ursprungs ist, lässt sich ihre ursprüngliche Kopfhaltung nur ungefähr rekonstruieren. Im Vergleich mit der Überlieferung des berühmten Diskuswerfers, den Myron im mittleren 5. Jh. v. Chr. geschaffen hat,55 fällt auf, dass sich Polyklets Athlet in der römischen Kaiserzeit noch größerer Beliebtheit erfreut hat. Dies ist insofern überraschend, als sein Werk gegenüber Myrons Schöpfung eigentlich nichts Bemerkenswertes zu bieten hat, weder in thematischer noch in formaler Hinsicht. Da die Vielzahl der Kopien auch nicht mit der Berühmtheit des dargestellten Athleten erklärt werden kann – sein Name war zur Zeit der Entstehung der Kopien längst vergessen –, kann der Grund für die Beliebtheit des statuarischen Typus nur in der Wertschätzung zu suchen sein, die seinem Schöpfer noch 400 bis 600 Jahre Abb. 5 Unbekannter Bildhauer: Kopie einer Athletenstatue hochklassischer Zeit Marmor, 1. Jh. n. Chr. Dresden, Skulpturensammlung, Inv. Hm 70
34 nach dessen Tod zuteilgeworden ist. Wir werden weiter unten sehen, dass die Berühmtheit Polyklets auch bei einigen anderen statuarischen Typen den Ausschlag für die überaus umfangreiche Rezeption gegeben haben muss. Ruhig stehende Athleten, die Zeitgenossen Polyklets kreiert haben, etwa der Athlet Typus Monteverde56 und ein jugendlicher Athlet, den eine Statue in der Sempergalerie vertritt (Abb. 5),57 sind in der römischen Kaiserzeit offenbar nur vergleichsweise selten kopiert worden. Die Beliebtheit des Diskusträgers kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass Bildhauer auf das polykletische Werk selbst dann zurückgegriffen haben, wenn sie gar nicht die Absicht hatten, einen Athleten zu kreieren. Thematische Veränderungen dieser Art, in deren Rahmen ein Athlet beispielsweise in einen Gott verwandelt wurde, machen als sog. Umdeutungen einen nicht unerheblichen Teil der römisch-kaiserzeitlichen Statuenproduktion aus. In der Überlieferung des Diskusträgers sind Umdeutungen als Hermes (Mercurius), als Herakles (Hercules)58 und als Dionysos (Bacchus; s. u.) bezeugt sowie solche, die sich nicht sicher benennen lassen59 und/oder einen Porträtkopf getragen haben. Zur Dresdner Sammlung gehört – in Gestalt eines Abgusses – eine bildhauerisch besonders anspruchsvolle Umdeutung (Abb. 6).60 Der Abguss geht auf eine im Jahr 1881 in der Hadriansvilla bei Tivoli gefundene Statue des Dionysos zurück,61 die über längere Zeit hinweg nicht als Umdeutung des Diskusträgers zu erkennen war, weil man ihr linkes Bein in der Erstergänzung so restauriert hatte, dass der Fuß nicht mit der ganzen Sohle auf dem Boden ruhte. Der Abguss zeigt eben diese Ergänzung. Aus der zweiten, aus der Position des Knies in zutreffender Weise abgeleiteten Ergänzung geht jedoch hervor, dass das Standmotiv mit demjenigen des Diskusträgers übereinstimmte. Ungewiss ist lediglich die Ausrichtung des rechten Fußes, der samt dem Mittelstück der Plinthe antik und zugehörig ist. Auch in der Gesamthöhe und in der Körperhöhe sowie in der Position der Hoden stimmt der Dionysos mit dem Diskusträger überein.62 Die Kopfhaltung ist überaus ähnlich und wie beim Athleten liegt der Abb. 6 Unbekannter Bildhauer: Umdeutung eines polykletischen Athleten als Bacchus Marmor, 2. Jh. n. Chr. Rom, Palazzo Massimo (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 2291)
35 Abb. 7 Unbekannter Bildhauer: Teilkopie eines polykletischen Athleten, mit zusätzlicher Haarbinde Marmor, 2. Jh. n. Chr. Dresden, Skulpturensammlung, Inv. Hm 96 linke Oberarm enger am Körper an als der rechte. Die mit einer der vatikanischen Repliken63 übereinstimmende Position des Ansatzes für einen Steg zum rechten Handgelenk spricht außerdem dafür, dass auch die Haltung des rechten Unterarms nicht von derjenigen des Vorbilds abwich.64 Gegenüber dem hochklassischen Vorbild hat der in hadrianischer Zeit tätige Bildhauer des Dionysos einige Veränderungen vorgenommen; er hat ein Fell hinzugefügt, auf die Wiedergabe des Schamhaars verzichtet und den Gott mit einem Attribut ausgestattet, das sich von demjenigen des Diskusträgers unterschieden haben muss. Besonders raffiniert ist seine Veränderung der Körperbildung. Wie es für Darstellungen des Dionysos seit dem 4. Jh. v. Chr. üblich ist, erscheint der Körper des Gottes als deutlich ›weicher‹ als derjenige des polykletischen Athleten. Völlig neu konzipiert hat der Bildhauer des Dionysos außerdem die Frisur, da für eine Darstellung dieses Gottes die Kurzhaarfrisur, durch die sich alle männlichen Statuen Polyklets auszeichnen, durchaus ungeeignet war. Die Dresdner Sammlung verfügt zusätzlich zum Abguss des Dionysos noch über eine weitere Umdeutung des polykletischen Athleten, und zwar in Form einer Herme aus Marmor, die eine wulstförmige Binde im Haar trägt (Abb. 7).65 Es ist ungewiss, ob es die Wulstbinde in der Antike erlaubte, im Dargestellten eine bestimmte mythologische Figur, etwa Herakles, zu erkennen. Wahrscheinlich sollte die Binde nur einen allgemeinen Hinweis darauf geben, dass mit dem Kopf kein Sterblicher gemeint ist. Anders als es bei vollständigen Kopien der Fall ist, haben die Bildhauer von Teilkopien gelegentlich die Kopfhaltung des Vorbilds verändert. Beim Kopf der Dresdner Herme kommt dies darin zum Ausdruck, dass er im Unterschied zum Vorbild gerade nach vorn weist. Weitere Abweichungen vom Vorbild, die punktförmigen Eintiefungen der Pupillen und der Karunkeln, sind spät- oder nachantiken Ursprungs; sie verleihen dem Gesichtsausdruck eine eigentümliche Lebendigkeit.
67 8 Statue eines Heros Auf eine von Polyklet geschaffene Statue muss der Frisur zufolge ein leicht überlebensgroßer Kopftypus zurückgehen, den in Dresden Abgüsse der Bronzebüste aus Herkulaneum (Abb. 1–3)149 und des marmornen Kopfes in der Centrale Montemartini in Rom vertreten.150 Von den bislang bekannten Repliken, die fast alle zu Hermen oder Büsten gehört haben, tragen einige eine wulstförmige Binde im Haar, die dafür spricht, dass mit diesen Darstellungen Herakles gemeint ist. Aber zeigte auch das polykletische Werk diesen Heros? Diese Frage lässt sich nicht mit Gewissheit beantworten, weil sich bei keiner der Skulpturen, die den zum Kopftypus gehörigen Körper überliefern, ein Attribut erhalten hat. Die fünf Körperrepliken, die übrigens alle in der Größe gegenüber dem Vorbild um fast zwei Drittel reduziert sind,151 informieren lediglich darüber, dass die linke Hand an den Rücken gelegt und der rechte Arm so positioniert war, dass sich die Hand ungefähr auf Höhe des Halses in einer gewissen Entfernung und nach rechts versetzt vor dem Körper befunden hat.152 Die exponierte Position der Hand legt die Annahme nahe, dass diese kein Attribut gehalten hat, sondern einen Redegestus vollführte. Sollte diese Rekonstruktion zutreffen, wäre eine Deutung der Statue als Herakles als eher unwahrscheinlich anzusehen. Die Tätigkeit des Dargestellten wird dadurch unterstrichen, dass der Kopf zur rechten Hand weist. Besonders gut zeigen dies die kleinformatigen Repliken, etwa das Köpfchen, das sich zeitweise im Besitz des bereits mehrfach erwähnten Dresdner Archäologen Paul Arndt befunden hat (Abb. 4–5). Aus der Bildunterschrift zu einem Foto aus Arndts Nachlass geht hervor, dass dieser das Abb. 1–3 Unbekannter Bildhauer: Kopf der Teilkopie einer polykletischen Statue Bronze, zweite Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. Neapel, Museo archeologico (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 2037)
68 Abb. 6 Empfangsbestätigung für eine Zahlung der Königlichen Skulpturensammlung, ausgestellt von Paul Hartwig am 16. 2. 1893 Dresden, Archiv der Skulpturensammlung Abb. 4–5 Unbekannter Bildhauer: Kopf der verkleinerten Kopie einer polykletischen Statue Marmor, 1. Jh. n. Chr. Privatbesitz
69 Abb. 7 Unbekannter Bildhauer: Kopie einer Heraklesstatue hochklassischer Zeit Marmor, 1. oder 2. Jh. n. Chr. Dresden, Skulpturensammlung, Inv. Hm 93 Köpfchen von einem mit ihm befreundeten Kollegen erworben hat, der gleichfalls aus Sachsen stammt: Paul Hartwig aus Pirna (1859– 1919), der viele Jahre seines Lebens in Rom verbracht und dort geforscht sowie mit Antiken gehandelt hat.153 Eine ganze Reihe von Erwerbungen für die Dresdner Sammlung ist mit Hartwigs Hilfe zustande gekommen; hervorgehoben sei der große Torso des Herakles (Abb. 7), der im Februar 1893 zum Preis von 274 Mark und 75 Pfennig angekauft werden konnte.154 Hartwig hat der Königlichen Skulpturensammlung den Erhalt des Kaufpreises am 16. Februar bestätigt (Abb. 6). Der im 1. oder 2. Jh. n. Chr. tätige Bildhauer des Herakles hat eine der wenigen Statuen dieses Heros kopiert, die bislang für das 5. Jh. v. Chr. erschlossen werden konnten. Noch im Jahr des Erwerbs hat Arndt die bis heute gültige These vertreten, dass das selten kopierte Original, dessen Kopf eine Körperherme aus der Sammlung Ludovisi überliefert,155 von einem Zeitgenossen Polyklets geschaffen worden sein dürfte: »Nach den Einzelheiten der Musculatur Polyklet nahestehend.«156 Das Köpfchen (Abb. 4–5) hat Arndt wohl bald nach seinem Erhalt an den Bierbrauer Carl Jacobsen verkauft, den Begründer der bedeutendsten dänischen Skulpturensammlung: der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen. Jacobsen seinerseits dürfte das Stück spätestens in seinem Todesjahr, 1914, verschenkt haben. Erst vor wenigen Jahren ist es wieder im Kunsthandel aufgetaucht.157
71 Abb. 1 Unbekannter Bildhauer: Kopf der Kopie einer polykletischen Statue Marmor, frühes 1. Jh. n. Chr. Rom, Centrale Montemartini, Inv. 1858 9 Männliche Statue Ein Kopf im Depot der Centrale Montemartini (Abb. 1), der etliche Ergänzungen im Haar und im Gesicht aufweist, konnte schon vor langer Zeit als polykletisch bestimmt werden, weil er die für alle männlichen Skulpturen dieses Bildhauers charakteristische Haaranlage aufweist.158 Oberhalb des zentralen Stirnbereichs erkennt man, leicht aus der Mitte versetzt, eine Gabelung der Strähnenkompartimente, mit welcher ein am Rand der Stirn befindliches Zangenmotiv korrespondiert, dessen Strähnen, rechts und links ungefähr auf gleicher Höhe, zur Kopfmitte hin orientiert sind. Das ausgeklügelte System aus Bewegung und Gegenbewegung wird zu den Seiten hin fortgesetzt und findet sich, wie bei den übrigen Werken Polyklets, auch auf der Kalotte und am Hinterkopf. Es geht einher mit einer Fülle an Variationen, welche die Strähnenlänge und -krümmung betreffen, sowie mit einem als kompakt erscheinenden Haarvolumen. In den neueren Forschungen zu Polyklet ist dem Kopf in der Centrale Montemartini kaum noch Beachtung zuteilgeworden, weil Zanker in ihm die »Umbildung« eines anderen Typus vermutet hat.159 Angesichts des in den römisch-kaiserzeitlichen Kopierbetrieben üblichen Umgangs mit Abgüssen polykletischer Werke ist solch eine Art der Veränderung indes gerade nicht zu erwarten. Mit einer Höhe von 24,5 cm (vom Kinn bis zum Scheitel) dürfte der Kopf vielmehr zu einer Statue gehört haben, die in der Größe dem ca. 1,84 m großen polykletischen Hermes (Kat. 5) nahegestanden hat. Eine Replik ist nicht bekannt und eine Benennung des Dargestellten in Ermangelung spezifischer Merkmale oder Attribute nicht möglich. Da das Haar einerseits einen etwas stärker bewegten Eindruck hinterlässt als dasjenige des Hermes, die Haargestaltung am Hinterkopf andererseits noch nicht so weit entwickelt ist wie diejenige des Paniskos (Kat. 13), wird man die Entstehung des nur partiell zu erschließenden Bildwerks zwischen den beiden genannten Werken ansetzen (um 430 v. Chr.).
83 12 Statue eines unbekannten Athleten, sog. Dresdner Knabe Die für die Erschließung des polykletischen Œuvres wichtigste Dresdner Skulptur ist die Statue des sog. Dresdner Knaben, die August der Starke 1728 aus der Sammlung von Kardinal Alessandro Albani (1692– 1779) hat erwerben können (Abb. 1).192 Adolf Furtwängler, dem unter anderem auch die Konstituierung des statuarischen Typus des Diskusträgers (Kat. 1) verdankt wird, ist es 1893 geglückt, die Dresdner Statue mit weiteren, schlechter erhaltenen Repliken zu einemTypus zusammenzuschließen und imŒuvre Polyklets zu verankern.193 Dass die Statue auf ein Werk dieses Bildhauers zurückgehen dürfte, hatte einige Jahre vor Furtwängler schon Georg Treu erkannt.194 Auch wenn die ursprüngliche Position der verlorenen Unterarme anhand der Dresdner Kopie ungefähr rekonstruiert werden kann, ist es in Ermangelung einer vollständig erhaltenen Replik bis heute nicht möglich, das Attribut des Halbwüchsigen zu bestimmen. Die Größe von 1,52 m und die Kurzhaarfrisur lassen erwarten, dass die Statue einen Athleten zeigt, der in einem bedeutenden Wettbewerb, vielleicht bei den Olympischen Spielen, einen Sieg in der Klasse der Knaben errungen hat und dafür von seiner Heimatstadt mit einer Bronzestatue in Lebensgröße geehrt worden ist. Polyklets ›Handschrift‹ wird auch beim statuarischen Typus des Dresdner Knaben besonders bei der Betrachtung der Frisur deutlich. Ausgehend von einem Motiv auf der Schädelkalotte, das an einen Seestern erinnert, entwickelt sich die Frisur in Form von sichelförmig geschwungenen Strähnengruppen in alle Richtungen und läuft im Bereich der Abb. 1–3 Unbekannter Bildhauer: Kopie eines polykletischen Athleten Marmor, um Christi Geburt Dresden, Skulpturensammlung, Inv. Hm 88
84 Stirn in mehreren ›Zangen‹- bzw. ›Gabel‹-Motiven aus (Abb. 2). Der Vergleich mit den Kopfrepliken des polykletischen Hermes (Kat. 5) gibt zu erkennen, dass die Frisur des Dresdner Knaben vor den Ohren nicht mehr ganz so systematisch konzipiert worden ist wie diejenige des etliche Jahre früher entstandenen Gottes. Beim Dresdner Knaben, der aus den 420er-Jahren stammen dürfte, macht sich bereits der sog. Reiche Stil bemerkbar, der vor allem für Werke charakteristisch ist, die attische Bildhauer im letzten Drittel des 5. Jh. v. Chr. geschaffen haben. Im Unterschied zur Mehrzahl seiner Schöpfungen hat sich Polyklet beim Dresdner Knaben für eine Kopfwendung zur Spielbeinseite hin entschieden, die vermutlich durch das in der linken Hand gehaltene Attribut motiviert war. Das namengebende Stück des statuarischen Typus weist als Besonderheit zwei ›Kopierpunkte‹ auf (Abb. 4), die sich an einer schlecht einzusehenden Stelle, am Hinterkopf, befinden. Dem in augusteischer Zeit tätigen Bildhauer haben sie dazu gedient, die Charakteristika des Abgusses mit möglichst großer Genauigkeit auf den von ihm zu bearbeitenden Block pentelischen Marmors zu übertragen. Andere Abweichungen, die der Dresdner Knabe gegenüber dem aus den Kopien erschlossenen Bronzeoriginal aufweist, sind dem Material geschuldet. Um sicher stehen zu können, ist die Figur ebenso wie nahezu alle anderen bekannten antiken Kopien zusammen mit der Plinthe aus einem Stück gearbeitet, und um dem Stein zusätzliche Stabilität zu verleihen, befinden sich neben dem Standbein ein inhaltlich sinnloser Baumstumpf sowie zwischen den Unterschenkeln eine Strebe. Mit Streben waren ursprünglich auch die Arme gesichert. Erhalten hat sich jedoch nur der Ansatz der Strebe, die zum rechten Handgelenk führte; die Bruchstelle, an welcher der Steg zum linken Handgelenk seinen Ausgang nahm, ist nach der Auffindung der Statue so gründlich geglättet worden, dass sie sich auch im Streiflicht nicht mehr genau lokalisieren lässt.195 Abb. 5 Unbekannter Bildhauer: Kopie eines polykletischen Athleten Marmor, um Christi Geburt Dresden, Skulpturensammlung, Inv. Hm 88 (hier im Stich aus Leplats Recueil, 1733, Taf. 40) Abb. 6 Johann Friedrich Wacker: Inventarium über sämtliche im großen Garten befindliche antique und moderne Statuën, Groupen, Busten, Köpfe u. u., Dresden 1765, Bl. 19r Dresden, Archiv der Skulpturensammlung
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87 Nach der Entdeckung der Statue – wohl in der Zeit um 1720 – stand der Restaurator vor dem gleichen Problem wie die archäologische Forschung noch 300 Jahre später: Welches Attribut kann der Knabe gehalten haben? In Ermangelung einer überzeugenden Idee entschied er sich dafür, beide Hände leer zu belassen und die Statue als Darstellung des Antinous, der im Jahr 130 als Jugendlicher im Nil ertrunken ist, an Kardinal Albani zu verkaufen. Als Antinous ist die Statue dann auch von August dem Starken erworben und in Leplats Recueil aufgenommen worden (Abb. 5).196 Bereits eine Generation später scheint diese Deutung jedoch als überholt erachtet worden zu sein: Im Dresdner Inventarium aus dem Jahr 1765, das Johann Friedrich Wacker verfasst hat, ist nur noch von einem »jungen Menschen mit herab hangenden Armen« die Rede (Abb. 6).197 Lipsius hat die Benennung als Antinous im ausgehenden 18. Jahrhundert dann ausdrücklich zurückgewiesen.198 Zum statuarischen Typus des Dresdner Knaben gehört noch ein zweites Werk der Skulpturensammlung.199 Es Abb. 7–8 Unbekannter Bildhauer: Umdeutung eines polykletischen Athleten Marmor, zweite Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. Rom, Musei Capitolini, Depot (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 2250) handelt sich um den Gipsabguss einer fragmentarisch erhaltenen Statue im Depot der Kapitolinischen Museen (Abb. 7–8), die erstmals im Jahr 1886 besprochen worden ist. Wie in vielen anderen Fällen hat auch hier der Umstand, dass die Skulptur in einem Detail vom Dresdner Knaben abweicht – sie trägt ein über die rechte Schulter gelegtes Schwert- oder Köcherband –, für eine gewisse Verwirrung gesorgt. In seinen Meisterwerken rückt Furtwängler sie zwar in die Nähe des Dresdner Knaben, schreibt aber, dass ihm keine Replik bekannt sei,200 und im Jahr 2010 ist sie sogar irrtümlich als Kopie eines Werkes des Praxiteles (!) klassifiziert worden.201 Furtwänglers Beurteilung hängt damit zusammen, dass es von einem anderen Werk Polyklets, dem Diadumenos (Kat. 10), eine verkleinerte Wiederholung gibt, den Diadumenos Farnese (Abb. S. 21), der sich dadurch gravierend vom Vorbild unterscheidet, dass der Fuß des Spielbeins bei ihm mit der ganzen Sohle auf dem Boden ruht.202 Obwohl diese Überlieferung durch keine Replik gestützt wird, hat die Forschung bis 1974 angenommen, dass es im 5. Jh. v. Chr. außer dem polykletischen Diadumenos noch eine zweite, ganz ähnliche, aber im Standmotiv abweichende Statue gegeben habe, das Werk eines aus Attika stammenden Zeitgenossen des Polyklet.203 Auf dieser Grundlage wurde gelegentlich die These vertreten, dass im 5. Jh. v. Chr. nicht nur vom Diadumenos, sondern auch von anderen statuarischen Schöpfungen Polyklets Zweitausführungen attischen Ursprungs existiert hätten. Erst Paul Zanker gelang es nachzuweisen, dass der Bildhauer des Diadumenos Farnese das Vorbild, also den polykletischen Diadumenos, nicht nur verkleinert, sondern auch im Hinblick auf die Haltung von Kopf, Armen und Spielbein vereinfacht hat.204 Tatsächlich ist die fragmentarisch erhaltene Statue im Depot der Kapitolinischen Museen (Abb. 7) als eine Umdeutung des statuarischen Typus des Dresdner Knaben zu interpretieren, mit dem sie sowohl in der Größe und in allen Lockenmotiven als auch im Standmotiv genau übereingestimmt haben dürfte. Wer mit der Darstellung gemeint ist, bleibt indes fraglich. Der wahrscheinlichste Kandidat dürfte, passend zur Knabengröße, Eros sein, der in der antiken Skulptur gelegentlich mit einem Köcherband wiedergegeben worden ist. Die Augenbildung und die zum Teil durchaus flüchtig anmutende Darstellung des Haars sprechen meines Erachtens dafür, dass die Skulptur in späthellenistischer Zeit, im 1. Jh. v. Chr., geschaffen worden ist.205
SANDST E I N Von den bedeutendsten abendländischen Bildhauern wüsste man so gut wie nichts, wäre von ihren Werken nicht in antiken Texten die Rede und wären ihre Werke nicht in hellenistischer Zeit sowie in der römischen Kaiserzeit kopiert worden. Da die Kopien eines griechischen Originals in der Regel nicht nur im Format und in den Grundzügen weitestgehend übereinstimmen, sondern auch in den Einzelheiten der Formgebung, etwa im Bereich des Haupthaars – die Produktion vieler Kopierbetriebe unterlag o enbar einer Qualitätssicherung –, besteht heute die Möglichkeit, sich vom Aussehen etlicher verlorener Meisterwerke eine recht genaue Vorstellung zu verscha en. Unter den Skulpturen, die auf verlorene Bronzestatuen aus der Zeit der Hochklassik ( . Jahrhundert v. Chr.) zurückgehen, ragt, gemessen an der Stückzahl, eine bestimmte Gruppe heraus: Es sind Statuen(-teile) sowie Hermen, deren Bildhauer Abgüsse von Bronzestatuen Polyklets in Marmor, Grauwacke und Bronze übertragen haben. Ausgehend vom Dresdner Bestand an antiken Skulpturen und Gipsabgüssen widmet sich diese Publikation der Frage, welche Werke das bildhauerische Scha en Polyklets umfasst hat und wie diese zu rekonstruieren und zu deuten sind.
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