Leseprobe

17 Polyklet Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass einer der bedeutendsten abendländischen Bildhauer ausgerechnet den Namen »der weithin Berühmte« (griech. Polykleitos) trägt. Platon nennt ihn im frühen 4. Jh. v. Chr. in seinem Dialog Protagoras in einem Atemzug mit Phidias, dem Schöpfer eines der Sieben Weltwunder (Zeus von Olympia), und in einer anderen Quelle, die dem römischen Gelehrten Plinius d. Ä. im 1. Jh. n. Chr. vorgelegen hat, muss davon die Rede gewesen sein, dass er seinen Zeitgenossen Phidias sogar übertroffen habe, und zwar mit der in Ephesos in Kleinasien aufgestellten Statue einer Amazone (Kat. 7). Von Polyklet und einzelnen seiner Werke berichten außer Platon und Plinius auch noch etliche weitere griechische und römische Autoren, wie zum Beispiel Philon von Byzanz, Cicero, Quintilian und Plutarch, und noch im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts ist bei der byzantinischen Geschichtsschreiberin Anna Komnene die Rede von Polyklets »Kanon«. Polyklet dürfte bald nach 490 v. Chr. in Argos auf der Peloponnes geboren worden sein und ist wahrscheinlich ebenda, zwischen 420 und 400 v. Chr., gestorben. Sein Schaffen umfasste ausschließlich Werke aus Bronze, was in der Berufsbezeichnung – »Schöpfer von [rundplastischen] Bildwerken« (griech. agalmatopoiós) – jedoch nicht zum Ausdruck kommt.1 Sein Wirkungsbereich dürfte sich auf die Peloponnes konzentriert haben; er hat aber nachweislich auch einen Auftrag für die Herstellung einer verwundeten Amazone angenommen, den er aus Ephesos, vielleicht von der Priesterschaft des dortigen Artemis-­ Heiligtums, erhalten hatte (Kat. 7). Zudem ist von zwei Siegerstatuen, die Polyklet wahrscheinlich ebenso wie die Amazone in seiner Heimatstadt angefertigt hat, der Ort der Aufstellung bekannt. Es handelt sich um das Zeus-­ Heiligtum in Olympia (Abb. 2). Auf der Oberseite der Basis für die eine der beiden Statuen hat sich bis heute ein Teil der ›Signatur‹ erhalten.2 Anlässlich der Aufstellung der Statue des Olympiasiegers Pythokles aus Elis in der Zeit um 450 v. Chr. hat ein Steinmetz in dem griechischen Dialekt, der in Argos gesprochen wurde, die folgende Angabe in den Stein eingetragen: »Πολύκλετος [ἐποίε Ἀργεῖος] / Polyklet [aus Argos hat dies geschaffen]« (Abb. 3). Diese Angabe ist einige Jahrhunderte später, vielleicht im Zusammenhang mit einer neuen Sockelung der Statue oder einer anderen, gravierenderen Umgestaltung, auf dem gegenüberliegenden Abschnitt der Oberseite der Basis wiederholt worden. Im Zentrum von Polyklets Schaffen standen rundplastische Darstellungen ruhig stehender nackter Knaben, Jugendlicher und Männer in Lebens- oder leichter Überlebensgröße (Kat. 1–6, 8–13). Für diese Statuen ist es charakteristisch, dass Stand- und Spielbeinseite deutlich voneinander unterschieden sind. Der Unterschenkel des entlasteten Beins ist in der Regel nach hinten geführt und der zugehörige Fuß mit der Ferse und dem zentralen Abschnitt der Sohle vom Boden gelöst. Das durch die Position des zurückgestellten Fußes hervorgerufene Ungleichgewicht, das mit einem einseitigen Absenken der Beckenpartie einhergeht, wird durch eine Kontraktion der über dem Standbein befindlichen Körperhälfte ausgeglichen sowie in vielen Fällen außerdem dadurch, dass der Kopf zur Standbeinseite gedreht ist. Gleichzeitig korrespondiert mit der Entlastung des Spielbeins in der Regel diejenige des Arms der gegenüberliegenden Seite, während der Arm der Spielbeinseite eine Aktion vollführt. Das auf einen Ausgleich von Ruhe und Bewegungsimpuls zielende Kompositionsprinzip erstreckt sich auch auf das Haupthaar, welches einem raffinierten System aus Bewegung und Gegenbewegung unterworfen ist. Plinius zufolge soll Polyklet der erste Bildhauer gewesen sein, der die an ein Schreiten erinnernde Art des Stehens bei seinen Bildwerken zur Darstellung gebracht hat.3 Wenn Plinius in demselben Zusammenhang unter Berufung auf Varro davon spricht, dass Polyklets Skulpturen außerdem einen »quadratischen« Eindruck hinterlassen hätten, ist es unklar, ob damit eine Kritik an deren Erscheinungsbild zum Ausdruck gebracht werden soll.4 Im Vergleich mit den Bildwerken späterer Zeiten, etwa mit solchen des 4. Jhs. v. Chr. (Abb. S. 15), konnte man sicher Abb. 1 Detail aus Abb. 7

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1