19 den Eindruck gewinnen, dass Polyklets Schöpfungen eine gewisse Leichtigkeit oder Geschmeidigkeit fehlte. Seine Werke seien darüber hinaus, so Cicero in einem Dialog, der den Titel Brutus trägt, geradezu vollkommen gewesen (»iam plane perfecta«),5 mögen also dem einen oder anderen Betrachter als (zu) »akademisch« erschienen sein. Verantwortlich für den perfekt anmutenden Gesamteindruck war ein Höchstmaß an formaler Ausgewogenheit, für welches die nackte, ruhig stehende männliche Figur eine ideale Projektionsfläche bot, und welches offenbar auch dadurch zustande kam, dass Polyklet ausführliche, auf der Vermessung der einzelnen Gliedmaßen beruhende Berechnungen zu den Proportionen des menschlichen Körpers angestellt hat.6 Wie kein anderes seiner Werke verkörpert die als Speerträger (griech. doryphóros) bekannte Statue, vielleicht eine Darstellung Achills (Kat. 3), Polyklets perfektionistisches Streben nach Ausgewogenheit. Wohl zu Recht wird dieses Bildwerk daher mit einer als Kanon bezeichneten Statue gleichgesetzt, die der griechische Arzt und Philosoph Galen (zweite Hälfte des 2. Jhs. n. Chr.) in einer Schrift mit demTitel Über die Mischungen erwähnt: »Und [deswegen] wird wohl auch eine Kanon genannte Statue Polyklets gelobt, die diesen Namen erhalten hat, weil sich alle Teile genau in der richtigen Proportion zueinander verhalten.«7 Von Galen erfahren wir außerdem, dass Polyklet seine Überlegungen zur bildnerischen Gestaltung des menschlichen Körpers auch in eine kunsttheoretische Schrift hat einfließen lassen. Die Schrift, aus der kein wörtliches Zitat überliefert ist, soll Galen zufolge ebenso bezeichnet worden sein wie die auf ihrer Grundlage angefertigte Statue: »[...], wie im Kanon Polyklets geschrieben steht. Denn alle Verhältnisse (symmetríai) des Körpers hat Polyklet uns in jener Schrift gelehrt; und in seinem [plastischen] Werk hat er diese Lehre bekräftigt, indem er nach den Vorschriften in seiner Abhandlung eine Statue schuf und die Statue selbst Kanon nannte wie auch seine Schrift.«8 Durch seine theoretische Beschäftigung mit der Bildhauerkunst tritt Polyklet, vielleicht als der erste bildende Künstler überhaupt, aus dem Status einer in erster Linie handwerklich tätigen Person heraus. Sein Kanon ist »ein Zeichen sozialer Emanzipation und zugleich ein erstes Zeugnis für die Bereitschaft, zwischen Handwerk und Kunst zu unterscheiden. Denn wer gründlicher als gewöhnlich ein Handwerker über sein Tun nachgedacht hat und darüber Rechenschaft abzulegen weiß, der darf für das Ergebnis seines derart reflektierten Schaffens auch eine erhöhte Aufmerksamkeit beanspruchen.«9 Besondere Beachtung ist Polyklets Schaffen in der Zeit von etwa 100 v. Chr. bis etwa 250 n. Chr. zuteilgeworden, als man viele seiner Bronzestatuen mehrfach abgeformt und auf der Grundlage der aus den Negativformen gewonnenen Abgüsse zigfach vervielfältigt hat. Tatsächlich ist Polyklet der am häufigsten kopierte Bildhauer der hochklassischen Zeit. Die Wiederentdeckung Polyklets in der Neuzeit In der Renaissance führte das neu erwachte Interesse an der Antike zu einer intensiven Beschäftigung mit den Texten, in denen die berühmten griechischen Bildhauer und Maler Erwähnung gefunden haben. Zwischen 1310 und 1320 erweist Dante im Purgatorium der Divina Commedia Polyklet seine Reverenz, indem er ihn als Gradmesser für die Qualität von Kunstwerken anführt.10 Gut 100 Jahre später muss Polyklets Name erstmals dazu herhalten, den Verkaufspreis einer antiken Skulptur zu steigern. So geht aus einem Brief des Humanisten Poggio Bracciolini (1380–1459) hervor, dass ein gewiefter griechischer Händler um 1430 den Versuch unternahm, einen antiken weiblichen Kopf als eine Hera von der Hand des Polyklet zu verkaufen.11 Ungefähr zur gleichen Zeit führte eine Inschrift die Gelehrten auf eine falsche Fährte. Diese Inschrift befand sich auf einem Karneol, der seit rund 300 Jahren verschollen ist, und lautete »ΠOΛYKΛEITOY« (»[Werk] des Polyklet«). Sie muss von einem Namensvetter des Bildhauers stammen, der wahrscheinlich im 3. Jh. v. Chr. tätig gewesen ist, und zwar als Gemmenschneider.12 Der Karneol, über dessen Aussehen Abdrücke informieren, zeigt, wie Diomedes mit dem gerade geraubten kleinen trojanischen Athena-Kultbild in der einen und dem gezückten Schwert in der anderen Hand über einen Altar steigt. Auch wenn dem Bildhauer Polyklet in keinem antiken Text eine Darstellung des Diomedes zugeschrieben wird, scheint das Thema eigentlich mit der Autorschaft dieses
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