Leseprobe

20 Mannes gut vereinbar zu sein: Polyklet stammte aus Argos, also aus eben der Stadt, über die Diomedes der Sage nach als König geherrscht haben soll. Im 15. Jahrhundert war man sich jedoch über den Inhalt der Darstellung auf dem Karneol noch nicht im Klaren.13 Wenn der Florentiner Buchhändler Vespasiano da Bisticci in einer Biographie davon berichtet, dass eine von vielen weiteren motivgleichen Darstellungen um 1420/30 für polykletisch gehalten worden ist,14 kann dies nur darauf zurückzuführen sein, dass man aus der übereinstimmenden Komposition den Schluss zog, dass beide Gemmen von derselben Person geschaffen worden seien. Auch ein 2,2 cm hoher Gemmenabdruck in der Dresdner Sammlung geht auf einen antiken Schmuckstein mit der Darstellung dieses Motivs zurück (Abb. 4).15 Die erste graphische Abbildung der Kopie eines polykletischen Werkes findet sich in dem wohl berühmtesten Stichwerk zumThema »Antike Statuen«: Giovanni Battista Cavalieri (oder De’ Cavalieri) zeigt auf Tafel 62 seines Antiquarum statuarum Urbis Romae primus et secundus liber (Rom 1585) den heute in der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen aufbewahrten Doryphoros (vgl. hier Kat. 3), der bereits in der Antike in einen Satyr mit Panflöte und mit einem große Teile des Körpers bedeckenden Fell transformiert worden ist (Abb. 5).16 Abbildungen polykletischer Werke begegnet man natürlich auch im 17. Jahrhundert, etwa in der Galleria Giustiniana, dem ersten Stichwerk, das ausschließlich den Skulpturen einer einzigen, in Rom beheimateten Sammlung gewidmet ist. Tafel 58 in Band I der zwei Bände umfassenden Publikation aus dem Jahr 1635/36 zeigt eine Torsoreplik des Epheben Typus Westmacott (vgl. Kat. 2), die Gian Lorenzo Bernini vor 1634 als Lichtbringer ergänzt hat.17 Polyklet im Spiegel der Kopien (I): Winckelmann In den 60er-Jahren des 18. Jahrhunderts gelingt es zum ersten Mal, die ›Handschrift‹ Polyklets in einem großplastischen Werk ausfindig zu machen. Es war Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der Begründer der Klassischen Archäologie, der in einer damals im Garten der Villa Farnese in Rom aufgestellten Statue den Reflex eines der polykletischen Hauptwerke vermutete. In seiner Geschichte der Kunst des Alterthums bringt er die heute im British Museum aufbewahrte Statue (Abb. 6) mit dem Diadumenos (Kat. 10) in Verbindung, der ihm in erster Linie durch die Erwähnung in Plinius’ Naturalis Historia ein Begriff gewesen ist:18 »Es ist glaublich, daß diese Statue sehr oft copiret worden, und vielleicht ist eine Statue in der Villa Farnese wenigstens nach einer Copie des Diadumenos gemacht.« Es muss hervorgehoben werden, dass die in der Fachliteratur als Diadumenos Farnese bezeichnete Statue keineswegs einen besonders günstigen Ausgangspunkt für die Wiedergewinnung des polykletischen Œuvres darstellt. Ihr Bildhauer hat das verlorene Bronzeoriginal nämlich nicht nur in anderem Material, sondern auch um etwa 20 Prozent verkleinert wiedergegeben. In Sorge um die Statik seiner Skulptur hat er obendrein ein für Polyklets Werke besonders charakteristisches Merkmal, den sog. Schrittstand, durch ein konventionelles Standmotiv ersetzt, was dazu geführt hat, Abb. 4 Abdruck einer antiken Gemme Schwefel, mit Zinnober angereichert, erste Hälfte des 18. Jhs. Dresden, Skulpturensammlung, Inv. ASN 5422 L 038

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