Leseprobe

31 1 Statue eines unbekannten Athleten, sog. Diskusträger Ein fälschlich als Diskusträger (griech. diskophóros) bezeichneter statuarischer Typus geht auf eine nicht mehr erhaltene Bronzestatue Polyklets zurück, die einen muskulösen nackten Mann mit rechtem Stand- und linkem Spielbein zeigte (vgl. Abb. S. 22). Die für die griechische Plastik seit dem zweiten Viertel des 5. Jhs. v. Chr. charakteristische ungleiche Verteilung der Körperlast auf die beiden Beine lässt sich gut an der Schrägstellung des Beckens ablesen. Im Bereich des Rumpfes wird die Schräge durch eine deutliche Kontraktion der rechten Körperhälfte wieder ausgeglichen, und zwar in einem solchen Maß, dass die Schulter dieser Seite etwas tiefer positioniert ist als diejenige der Spielbeinseite. Der Kopf war ein wenig zur Standbeinseite gedreht und etwas gesenkt; von den beiden Armen war der rechte im Bereich des Oberarms stärker vom Körper gelöst als der linke. Welchen Gegenstand der Dargestellte hielt, lässt sich, da die Hände bei keiner Kopie erhalten geblieben sind, nicht bestimmen.46 Das für Polyklet gerade nicht charakteristische Standmotiv, das sich dadurch auszeichnet, dass der Fuß des Spielbeins mit der ganzen Sohle den Boden berührt, spricht ebenso wie die Art der Haargestaltung dafür, dass das Original zu seinem frühen Schaffen gehört hat und älter als die übrigen statuarischen Typen ist, die auf Werke von seiner Hand zurückgehen. In der Forschung besteht Einigkeit darin, dass Polyklet die Statue um 460 v. Chr. geschaffen hat.47 Die Verbindung mit einer der Skulpturen, die diesem Bildhauer in antiken Texten zugeschrieben werden, ist nicht möglich;48 die Lebensgröße von ca. 1,77 m lässt erwarten, dass das Original einen siegreichen Athleten zeigte.49 In demselben Jahr, in dem es Adolf Furtwängler gelang, den statuarischen Typus des Diskusträgers zu konstituieren,50 hat die Skulpturensammlung von dem aus Dresden stammenden Archäologen Paul Arndt eine Kopfreplik als Geschenk erhalten, deren Wert dieser in einem im März Abb. 1–2 Unbekannter Bildhauer: Kopf der Kopie eines polykletischen Athleten Marmor, 1. Jh. n. Chr. Dresden, Skulpturensammlung, Inv. Hm 83 1893 verfassten Brief an Georg Treu mit zehn Lire beziffert hatte (Abb. 3–4).51 Der laut Arndt »sehr ruinierte, aber ehemals sehr gute« Kopf lässt sich mit Gewissheit als Replik des Diskusträgers bestimmen (Abb. 1–2): Er entspricht den übrigen Repliken nämlich nicht nur in der Lebensgröße und in der Rechtsdrehung, sondern auch in der Disposition des Haupthaars, was sich leicht bei der Betrachtung der Profile erkennen lässt. Für viele der in der römischen Kaiserzeit hergestellten Kopien berühmter

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