Leseprobe

33 griechischer Statuen ist es charakteristisch, dass ihre Bildhauer – den erhaltenen Signaturen zufolge waren es fast immer Griechen – die Frisuren der Originale mit größtmöglicher Genauigkeit und unter Zuhilfenahme von Abgüssen reproduziert haben. Dies wird nirgendwo besser deutlich als bei einem Vergleich der Kopien, die auf Werke Polyklets zurückgehen. Auch an den Stellen, die für die Betrachter kaum oder gar nicht zu sehen waren, haben die Kopisten in der Regel Sorgfalt walten lassen. Auf dieser Grundlage ist es selbst dann möglich, ein Objekt mit einem bestimmten Werk Polyklets zu verbinden, wenn sich nur ein Fragment in Form einiger weniger Locken erhalten hat. Dies ist beispielsweise bei einem Bruchstück aus ägyptischer Grauwacke der Fall, das in den 1950er-Jahren in Rom zutage getreten ist und nur einige Strähnengruppen der linken Seite eines Kopfes umfasst.52 Wegen der Disposition der Locken muss das Fragment ebenso wie der Dresdner Kopf zu einer statuarischen, in der frühen römischen Kaiserzeit hergestellten Replik des Diskusträgers gehört haben. Es ist die einzige Kopie dieses Typus, die nicht aus Marmor besteht. Insgesamt lassen sich bislang mehr als 20 Repliken des Kopfes nachweisen, die mit einer Ausnahme, einer um etwa 50 Prozent verkleinerten Umdeutung als Hermes,53 alle im lebensgroßen Format übereinstimmen. Die Verbindung von Kopf und Körper ist nur selten bezeugt: bei zwei Umdeutungen als Herakles und als Dionysos (vgl. unten) sowie bei dem Oberteil einer Statue, das aus der Sammlung der Familie Odescalchi stammt.54 Da der Hals dieser Replik fast zur Gänze neuzeitlichen Ursprungs ist, lässt sich ihre ursprüngliche Kopfhaltung nur ungefähr rekonstruieren. Im Vergleich mit der Überlieferung des berühmten Diskuswerfers, den Myron im mittleren 5. Jh. v. Chr. geschaffen hat,55 fällt auf, dass sich Polyklets Athlet in der römischen Kaiserzeit noch größerer Beliebtheit erfreut hat. Dies ist insofern überraschend, als sein Werk gegenüber Myrons Schöpfung eigentlich nichts Bemerkenswertes zu bieten hat, weder in thematischer noch in formaler Hinsicht. Da die Vielzahl der Kopien auch nicht mit der Berühmtheit des dargestellten Athleten erklärt werden kann – sein Name war zur Zeit der Entstehung der Kopien längst vergessen –, kann der Grund für die Beliebtheit des statuarischen Typus nur in der Wertschätzung zu suchen sein, die seinem Schöpfer noch 400 bis 600 Jahre Abb. 5 Unbekannter Bildhauer: Kopie einer Athletenstatue hochklassischer Zeit Marmor, 1. Jh. n. Chr. Dresden, Skulpturensammlung, Inv. Hm 70

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