Leseprobe

87 Nach der Entdeckung der Statue – wohl in der Zeit um 1720 – stand der Restaurator vor dem gleichen Problem wie die archäologische Forschung noch 300 Jahre später: Welches Attribut kann der Knabe gehalten haben? In Ermangelung einer überzeugenden Idee entschied er sich dafür, beide Hände leer zu belassen und die Statue als Darstellung des Antinous, der im Jahr 130 als Jugendlicher im Nil ertrunken ist, an Kardinal Albani zu verkaufen. Als Antinous ist die Statue dann auch von August dem Starken erworben und in Leplats Recueil aufgenommen worden (Abb. 5).196 Bereits eine Generation später scheint diese Deutung jedoch als überholt erachtet worden zu sein: Im Dresdner Inventarium aus dem Jahr 1765, das Johann Friedrich Wacker verfasst hat, ist nur noch von einem »jungen Menschen mit herab hangenden Armen« die Rede (Abb. 6).197 Lipsius hat die Benennung als Antinous im ausgehenden 18. Jahrhundert dann ausdrücklich zurückgewiesen.198 Zum statuarischen Typus des Dresdner Knaben gehört noch ein zweites Werk der Skulpturensammlung.199 Es Abb. 7–8 Unbekannter Bildhauer: Umdeutung eines polykletischen Athleten Marmor, zweite Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. Rom, Musei Capitolini, Depot (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 2250) handelt sich um den Gipsabguss einer fragmentarisch erhaltenen Statue im Depot der Kapitolinischen Museen (Abb. 7–8), die erstmals im Jahr 1886 besprochen worden ist. Wie in vielen anderen Fällen hat auch hier der Umstand, dass die Skulptur in einem Detail vom Dresdner Knaben abweicht – sie trägt ein über die rechte Schulter gelegtes Schwert- oder Köcherband –, für eine gewisse Verwirrung gesorgt. In seinen Meisterwerken rückt Furtwängler sie zwar in die Nähe des Dresdner Knaben, schreibt aber, dass ihm keine Replik bekannt sei,200 und im Jahr 2010 ist sie sogar irrtümlich als Kopie eines Werkes des Praxiteles (!) klassifiziert worden.201 Furtwänglers Beurteilung hängt damit zusammen, dass es von einem anderen Werk Polyklets, dem Diadumenos (Kat. 10), eine verkleinerte Wiederholung gibt, den Diadumenos Farnese (Abb. S. 21), der sich dadurch gravierend vom Vorbild unterscheidet, dass der Fuß des Spielbeins bei ihm mit der ganzen Sohle auf dem Boden ruht.202 Obwohl diese Überlieferung durch keine Replik gestützt wird, hat die Forschung bis 1974 angenommen, dass es im 5. Jh. v. Chr. außer dem polykletischen Diadumenos noch eine zweite, ganz ähnliche, aber im Standmotiv abweichende Statue gegeben habe, das Werk eines aus Attika stammenden Zeitgenossen des Polyklet.203 Auf dieser Grundlage wurde gelegentlich die These vertreten, dass im 5. Jh. v. Chr. nicht nur vom Diadumenos, sondern auch von anderen statuarischen Schöpfungen Polyklets Zweitausführungen attischen Ursprungs existiert hätten. Erst Paul Zanker gelang es nachzuweisen, dass der Bildhauer des Diadumenos Farnese das Vorbild, also den polykletischen Diadumenos, nicht nur verkleinert, sondern auch im Hinblick auf die Haltung von Kopf, Armen und Spielbein vereinfacht hat.204 Tatsächlich ist die fragmentarisch erhaltene Statue im Depot der Kapitolinischen Museen (Abb. 7) als eine Umdeutung des statuarischen Typus des Dresdner Knaben zu interpretieren, mit dem sie sowohl in der Größe und in allen Lockenmotiven als auch im Standmotiv genau übereingestimmt haben dürfte. Wer mit der Darstellung gemeint ist, bleibt indes fraglich. Der wahrscheinlichste Kandidat dürfte, passend zur Knabengröße, Eros sein, der in der antiken Skulptur gelegentlich mit einem Köcherband wiedergegeben worden ist. Die Augenbildung und die zum Teil durchaus flüchtig anmutende Darstellung des Haars sprechen meines Erachtens dafür, dass die Skulptur in späthellenistischer Zeit, im 1. Jh. v. Chr., geschaffen worden ist.205

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